Hans Hansen - ein gewöhnlicher Name, der für einen sehr gewöhnlichen
Menschen stehen soll - und doch verbindet sich mit ihm Tonio Krögers erste
Liebe. 14 Jahre zählt der Protagonist, als er die schmerzlichen
Erfahrungen, die eine heftige Zuneigung zu einem anderen Menschen erzeugen
kann, machen muss. Er leitet daraus die Lehre ab: "Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muß leiden", denn seine Liebe zum blonden Hans bleibt unerfüllt und unausgesprochen. "Er liebte ihn zunächst, weil er schön war; dann aber, weil er in
allen Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erschien. Hans
Hansen war ein vortrefflicher Schüler und außerdem ein frischer Gesell, der
ritt, turnte, schwamm wie ein Held und sich der allgemeinen Beliebtheit
erfreute". Tonio hingegen versenkt sich schon in seinen jungen Jahren in die Kunst:
er besitzt ein Heft mit selbstgeschriebenen Versen, streicht aus der Geige
süße Töne und liest Bücher wie Schillers "Don Carlos".
Sublimation als Rettung - die Veredelung menschlicher Triebe, die sich
nicht erfüllen können. "Warum bin ich doch so sonderlich und in Widerstreit mit allem,
zerfallen mit den Lehrern und fremd unter anderen Jungen?" - fragt sich Tonio Kröger.
Die Liebe zu Hans Hansen wird in der Novelle später zu einer Empfindung
eines dummen Jungen herabgesetzt - glaubwürdig ist dies allerdings nicht,
denn dafür hat sie Thomas Mann doch zuvor viel zu genau und eben liebevoll gezeichnet. Und noch später findet man sie in der Novelle "Der Tod in
Venedig" (1912) wieder: Der liebende Protagonist ist zwar schon ein
alter Mann, aber er ist im Zwischenmenschlich-Emotionalen noch immer auf
dem Niveau eines 14-jährigen - und empfindet für einen 14-jährigen. Da die
Triebe unterdrückt und weggeleugnet wurden, konnten sie sich nicht
weiterentwickeln, müssen dann als Krankheit wieder hervorbrechen. Ist es
so?
Mit 16 verliert Tonio Kröger sein Herz an die "blonde Inge" Holm
- aber diese Liebe bleibt ein noch größeres Abstraktum als die zu Hans
Hansen. Bei einem Tanzkurs kommt es für Tonio zu einer peinlichen Szene,
und da sagt er zu sich: "Man würde vielleicht einmal aufhören, zu lachen! [...] Es kam der
Tag, wo er berühmt war, wo alles gedruckt wurde, was er schrieb, und dann
würde man sehen, ob er nicht Eindruck auf Inge Holm machen würde..."
Die Schulzeit geht zu Ende, Tonio Kröger zieht nach Süden, in große Städte,
sein Herz aber ist tot und ohne Liebe, er verliert sich in der Wollust -
und treibt seine Kunst weiter voran. Ein "Ekel und Haß gegen die Sinne erfaßte ihn"... Gegenüber seiner platonischen Künstlerfreundschaft zu Lisaweta Iwanowna
bekennt Tonio Kröger: "Ich sage Ihnen, daß ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche
darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben . . .". Ein Satz, den man auch an anderen Stellen in Manns Werk findet - und den
Rainer Werner Fassbinder an den Schluss seines Filmes "Warnung vor
einer heiligen Hure" stellte.
Dreizehn Jahre sind verstrichen, seitdem Tonio Kröger aus seiner Heimat
auszog. Dann kehrt er zurück und trifft erneut auf Hans und Inge.
Mittlerweile sind sie ein Paar - Tonio beobachtet sie äußerlich, jedoch
nicht innerlich teilnahmslos auf einem Tanzabend (aus der Ferne). Es ist
nicht sein Leben, das da lebt, lebt und lacht. Tonio ist verdammt, zu
schauen ---
"Hatte ich euch vergessen? fragt er. Nein, niemals! Nicht dich, Hans,
noch dich, blonde Inge! Ihr wart es ja, für die ich arbeitete, und wenn ich
Applaus vernahm, blickte ich heimlich um mich, ob ihr daran teilhättet . .
."
Die alte Eifersucht wird wieder wach - und sie macht Tonio Kröger müde. Er
verlässt den Tanzabend, begibt sich in sein Hotelzimmer.
Die "Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen" sieht Thomas Mann, der doch recht deutlich in der Figur des Tonio Kröger zu
erkennen ist, als einzigen Weg, aus einem Literaten einen Dichter zu
machen. Dies kann natürlich nur als sein persönliches Erfolgsrezept, mit
dem er sich, so muss man sagen, an der Welt für die Kränkungen, die diese
ihm zugefügt hat, rächt, betrachtet werden. Allgemeingültigkeit hat es
nicht. Über diesem Rachegefühl jedoch steht Manns frühe schriftstellerische
Vision: "Ich schaue in eine ungeborene und schemenhafte Welt hinein, die
geordnet und gebildet sein will, ich sehe ein Gewimmel von Schatten
menschlicher Gestalten, die mir winken, daß ich sie banne und erlöse:
tragische und lächerliche und solche, die beides zugleich sind, - und
diesen bin ich sehr zugetan. Aber meine tiefste und verstohlenste Liebe
gehört den Blonden und Blauäugigen, den hellen Lebendigen, den Glücklichen,
Liebenswürdigen und Gewöhnlichen".