Von der kleinen, die Messe feiernden Gemeinde abgeschieden steht er im Eingangsbereich der Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale im west-ukrainischen Lviv und sucht Halt an einer weißen Säule. Sie ist so groß, sie kann ihn dreimal bergen, tausendfach halten; nie wird sie stürzen. Im Raum ist er der größte Sünder, ist er der größte Gläubige - der Heilige Trinker aus Joseph Roths letzter Legende. Seine verklebten dunklen Locken waren früher einmal die wallenden goldenen eines entzückenden Engels. Sein knielanger grüner Parka ein glänzend-weißes Samtkleid, das den Boden küsste und im Frühjahr die Blumen zum Blühen brachte. Seine Augen sind der Silbersee des alternden Alkoholikers, wässrig-blaue Melancholie, gegeben von Generation zu Generation; die Hände geschwollen; er schläft nachts in den Stiefeln, weil auch die Füße geschwollen sind. Schon als kleiner Junge war er in der Messe und Gott so nah. So nah.
Es ist Neujahrsabend. Des Jahres letzte Stunden vergehen und die wenigen Menschen in der Kathedrale folgen der Liturgie des polnischen Priesters. Der singt wie ein allzu liebes Vögelchen, singt Jesu Geburt, singt Kerzenwachs und strahlend gülden Licht. Nichts macht es aus, dass die Kathedrale fast leer ist. Er sieht in ihr einen Menschen, einige Menschen, viele Menschen, die ganze Menschheit. Die ewig gleichen Worte des Christentums erfüllen den Raum: heute, gestern, morgen. Sie glühen. Kommen von Herzen. Eine Kultur, die noch solche Worte hat, wird so schnell nicht verschwinden. Es nicht egal, in welcher Sprache die Liturgie vollzogen wird. Würde sie auf Deutsch so berühren? Niemals!
Wie gern wäre der Trinker einer der wenigen, die vorn auf den Bänken vor dem Priester sitzen und singen. Für immer ist er von ihnen getrennt: als schäbig, stinkend, verdammt. Aber er weiss noch, wo die Kathedrale steht, wo der Glaube an das Leben (es muss nicht ewig sein) ein Heim hat. Traurig, total ergriffen und ein wenig verrückt geht sein Blick in das Gewölbe. Das ist schon fast wie der Himmel. Alles so vertraut. Was denkt er? Was denkt er denn? Was denkt er denn an diesem Abend?
Stunden später sehen wir den Trinker wieder. Vielleicht noch eine halbe Stunde bis die Raketen fliegen und sich die jungen Leute vor dem Opernhaus ein frohes neues Jahr wünschen, lustige Laserbilder über dessen Fassade huschen werden. Böller gibt es nicht, denn in der Ukraine ist Krieg, ist leider immer noch Krieg. Der Trinker sitzt vor einem Geschäft auf den Eingangsstufen, hält einen dampfenden Becher: Kaffee? Glühwein? Er schluchzt, er weint, er ist so allein. Das neue Jahr kommt, die Menschen feiern. Das neue Jahr kommt, ihn wird es niederdrücken. Er schluchzt, er weint, er ist unter allen so allein. Unter allen ist er so allein. Ist er so allein. Er ist allein. Allein. Unter allen ist er so allein. Allein. Für immer so allein. Das neue Jahr kommt!