Aktuell
© 1999-2025 by Arne-Wigand Baganz

Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Wir spielen alle Ping-Pong

Start > Artikel > 2023

Der elementare Spiele-Klassiker Pong

Über einige Tücken unserer Interaktion mit der äußeren Welt und Gefahren, die kommerzielle soziale Netzwerke darstellen können

Wenn ich hier von Ping-Pong schreibe, denke ich nicht unbedingt an das berühmte Tischspiel, sondern vielmehr an eines der ältesten Spiele des Lebens. Man kann es Ping-Pong nennen oder Aktion-Reaktion: Man begeht eine Handlung und wartet auf das Echo, das diese in der Welt hervorruft. Ich werfe einen Stein ins Wasser und beobachte, wie er in der Luft fliegt, bis er die Wasseroberfläche berührt, in das Wasser eintaucht, verschwindet und sich Kreiswellen auf der Wasseroberfläche bilden. Ich berühre eine Saite eines Instruments und lausche, wie ein Ton schnell anschwillt, gehalten wird und allmählich wieder verklingt.
Auch im Zwischenmenschlichen spielen wir andauernd dieses Spiel: Wir äußern etwas und beobachten, wie andere auf unsere Äußerung reagieren. Vielleicht reagieren sie gar nicht, und das kann ja die unterschiedlichsten Gründe haben, dann sind wir mitunter verblüfft, irritiert und möglicherweise auch schon ein wenig verärgert.
Manche haben gelernt, verstörende bis extreme, also laute und schrille Pings zu senden, weil es ihnen egal ist, wie das Pong ausfällt, Hauptsache, es kommt ganz sicher. Nichts ist schlimmer für diese Leute, als nicht beachtet zu werden, deswegen sind sie bereit, zu Mitteln und Inhalten zu greifen, vor denen andere klugerweise zurückschrecken. Besonders gefährdet scheinen – und das sage ich als von zahlreichen Messern und Töpfen anerkannter Küchenpsychologe – sind Menschen, die nie wirklich geliebt worden sind, die eine große Herabsetzung aus einem bedeutenden öffentlich sichtbaren Amt erleben haben oder die in ihrem Ehrgeiz nach externer Anerkennung, die im Prinzip ja wieder eine Sehnsucht nach dem Geliebtwerden ist, ein bestimmtes Erfolgslevel nicht überschreiten konnten und sich dadurch herabgesetzt fühlen.

Soziale Medien: Möglichst viele Interaktionen
Auch die großen sozialen Medien sind nach dem Prinzip des Ping-Pong aufgebaut: Jeder Nutzer soll dazu angehalten werden, möglichst viele Pings (Inhalte jeglicher Art) und Pongs (Reaktionen wie Likes etc.) zu generieren, damit die Plattformen nie zur Ruhe kommen und immer neue Aktion-Reaktion-Ketten erzeugt werden, die dazu führen, dass Nutzer mehr und mehr Zeit auf den Plattformen verbringen. Die Quantität der Ereignisse ist Trumpf, und alles ein großer Strom, der an einem in einer gnadenlosen Geschwindigkeit pausenlos, rund um die Uhr vorbeirauscht, so lange man mit dem Internet verbunden ist. Emotionen gehen als teilbare Inhalte verpackt immer ganz gut, besonders, wenn sie Mitleid, Abscheu oder ähnlich starke Gefühle erregen. Ein weitergereichtes Video, das man mit einem markigen Spruch versieht, kann Hunderttausende erreichen, und ein netter Schnappschuss mit dem Handy ist in Zahlen oft mehr wert als der Link zu einem durchdachten Artikel, über den man sich zwei Wochen den Kopf zerbrochen hat, weil einem die meisten im sozial-digitalen Hamsterrad (wenn überhaupt) nur ein paar Sekunden Aufmerksamkeit schenken können, bevor sie zur nächstbesten Microsensation eilen. Überhaupt geht es sehr viel um abstrakte Zahlen – und letztlich um Sucht.

Gefangen in Ping-Pong-Spiralen
Die großen kommerziellen sozialen Medien können einen süchtig machen, weil sie einen ganz bewusst in Ping-Pong-Spiralen hineinziehen. Man muss sich klar werden: Weniger ist oft mehr, und das ist vielleicht wirklich einer der großen Vorzüge von Mastodon bzw. dem Fediverse: Die Betreiber haben per se nichts davon, dass die Nutzer der Angebote von ihnen abhängig werden, und daher haben sie auch viel weniger Mechanismen eingebaut, die darauf abzielen, eine solche Sucht zu erzeugen, die nur wenig gutes bewirkt und vor allem eine große Zeitverschwendung ist. Natürlich haben soziale Netzwerke auch ein paar sehr offensichtlich gute Seiten: Man lernt bestimmte Leute kennen und erreicht diese mit seinen Botschaften, was im realen Leben eher schwierig wäre: Ein prominenter deutscher Politiker liked einen Beitrag, den man verfasst hat, ein ukrainischer Buchautor, dessen Bücher man in der Vergangenheit besprochen hat, wird zu einem Follower – man hilft, einen Versprecher, der bei Anne Will geschehen ist, aufzuklären oder lässt sich von Anna Netrebko wegen eines Kommentars, den man auf Russisch verfasst hat, blockieren, weil man sie darin auf den russischen Krieg gegen die Ukraine anspricht, während sie in ihrem eigenen Beitrag darüber ihr wundervolles Jahr 2022 gefeiert hat, ohne den Krieg auch nur mit einem Hauch zu erwähnen. Das kann alles ganz nett und anregend sein, allerdings ist es auch ziemlich oberflächlich und man darf sich ruhig öfter fragen, welchen Wert es wirklich hat. Ist die Nutzung von Social Media mehr als nur ein globales, digitales Rattenrennen, in das sich ja auch gern böswillige Akteure wie Diktaturen oder politische Extremisten bewusst und mit manipulativer Absicht einmischen?

Das Füttern kapitalistischer Teufel
Es gibt sicherlich etliche Ausnahmen, also Menschen, die guten originären Content produzieren, aber im Schnitt findet man beispielsweise auf X / Twitter dann doch nicht allzuviel Kreativität: Leute erzählen, was 1000 andere Leute schon 1000 Mal vor ihnen gesagt haben, sie kopieren und iterieren andere Beiträge, sie füttern ihre Follower mit Übersetzungen aus Sprachen, welche die Follower heute in ähnlicher Qualität auch maschinell übersetzen lassen könnten. Es ist ein großer Zirkus, bei dem man immer schnell am Drücker sein muss, wenn irgendetwas auf der Welt passiert, um davon zahlenmäßig zu profitieren. Aber was bringt uns das ganze Schauen auf die größeren und kleineren Zahlen, das unablässliche Produzieren von häufig banalen Pings? Wir sind abhängig von den in Zahlen ausgedrückten Pongs, weil wir unser schnell vergängliches Glück, unser kurzfristiges Wohlbefinden davon steuern lassen. Die großen sozialen Netzwerke haben ein wesentliches Schema, mit dem wir uns in der Welt orientieren, bewegen und mit ihr interagieren, kommodisiert und schlachten es für ihre Zwecke aus. Unsere Interaktionen füttern schließlich kapitalistische Teufel, die immer mächtiger werden, während wir uns von ihnen durch Algorithmen zu bestimmten Verhaltensweisen bewegen und teilweise sicherlich sogar steuern lassen und so selbst immer ohnmächtiger werden, dabei ist es doch eine wichtige Entwicklungsaufgabe, dass wir lernen, uns aus der Abhängigkeit vom Pong zu lösen – um schrittweise immer etwas glücklichere Menschen zu werden.

Veröffentlicht am 27.08.2023

© 2023 by Arne-Wigand Baganz

Aufrufe: 508

Ihre Bewertung dieses Textes:


Vorheriger Text:
Die gefährliche Gleichgültigkeit
Nächster Text:
Russophobie