Elie Wiesel wurde 1928 in Sighetu Marmatiei im nordöstlichen Rumänien
geboren und im Alter von 15 Jahren in das KZ Auschwitz deportiert. Er
überlebte den Holocaust und machte diesen zum Thema zahlreicher Romane und
Publikationen. 1986 erhielt Elie Wiesel den Friedensnobelpreis für seinen
Kampf gegen Gewalt, Unterdrückung und Rassismus sowie für seine Rolle als
Botschafter der Menschheit, der eine Kunde des Friedens, der Versöhnung und
der Menschenwürde übermitteln wollte. ”Seine Überzeugung, dass der Kampf gegen das Böse in der Welt gewonnen
werden kann, hat er sich hart erkämpft”, heißt es in der damaligen Pressemitteilung des Nobelkomitees. Genau in
dieser Überzeugung steckt die Aktualität der Anschauungen von Elie Wiesel,
denn das Böse ist mit dem Sieg über den Nationalsozialismus keineswegs aus
der Welt verschwunden – was uns in einem Zustand belässt, in dem wir uns
ihm immer noch entgegenstellen müssen, damit es niemals einen endgültigen
Sieg davonträgt. Das Böse weilt also unter uns, und so konstatierte Wiesel
im Jahr 2009 in einer Rede in Buchenwald, dass die Menschheit aus den
Schrecken der deutschen Konzentrationslager nichts gelernt habe, denn wie
sonst seien die Ereignisse in Darfur, Ruanda oder Bosnien zu erklären?
Nie wieder
Wenn man es nicht mit Taten stützt, bleibt das ”Nie wieder” nur eine Reihung von zwei Worten, die zwar hoch klingt, aber letztlich hohl
bleibt. Wir sagen “Nie wieder” und haben das Entstehen von Zuständen
zugelassen, die dazu geführt haben, dass ein Großteil der bundesdeutschen
Bevölkerung die rechtsextreme AfD wählen würde. Wir sagen “Nie wieder” und
haben zugelassen und auch zu verantworten, dass selbst nach der russischen
Besetzung der Krim im Jahr 2014 Nord Stream 2 gebaut werden konnte – ein
Projekt, dessen Ziel immer die Vorbereitung eines größeren russischen
Krieges gegen die Ukraine war. Wir sagen “Nie wieder”, liefern aber nicht
rechtzeitig die Waffen in die Ukraine, die sie benötigt, um sich gegen die
russische Aggression zu verteidigen. Wir sagen “Nie wieder”, und etliche
von uns haben der Ukraine nur drei Tage gegeben, in denen sie sich gegen
das faschistische Russland von heute würde wehren können. Wir sagen “Nie
wieder” – und tun oft trotzdem nicht das dringend Erforderliche, das
moralisch Notwendige, das Richtige.
Das Leben schützen
Mir selbst begegnete der Name Elie Wiesels das erste Mal ganz bewusst vor
einigen Jahren, als ich ein kleines Holocaust-Museum im ukrainischen
Charkiw besuchte. Es hingen einige Zitate von ihm an den Wänden, die mich
ungeheuerlich beeindruckt haben, dennoch führte es nicht dazu, dass ich
mich sofort näher mit Leben und Werk von Elie Wiesel beschäftigte, zu viele
andere Themen stellten sich dazwischen. Erst mit dem Beginn des
vollumfänglichen Krieges Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022 erwachte
das Interesse an Elie Wiesel in mir erneut, plötzlich zitierte man ihn
wieder, und es wurde klar, wie viel dieser gute Mann, der in jungen Jahren
selbst so großes menschengemachtes Leid erfahren hat, uns heute noch zu
sagen hat und dass seine Erkenntnisse für uns eine Richtschnur sein können,
wenn es unser Ziel ist, das Leben und die menschlichen Werte zu schützen.
Erinnern wir uns also an das, was Elie Wiesel gesagt und geschrieben hat.
Neutralität hilft dem Unterdrücker
Eines der eindrucksvollsten Zitate von Wiesel betrifft die Neutralität,
welche jene gern vorschützen, die nicht mit menschlichen Schrecken
belästigt werden wollen, oder die – was noch schlimmer ist – einfach
weiterhin ihre blutigen Geschäfte mit einem Aggressorstaat betreiben
wollen:
Zitat: Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer, Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.
Wenn ein Land wie die Schweiz nun Rüstungsexporte in die Ukraine blockiert
und sich dabei auf seine Neutralität beruft, hilft sie ganz klar Russland
und macht sich mitschuldig an den Verbrechen, welche Russen an den
Ukrainern verüben. Neutralität hilft dem Unterdrücker. Immer.
Die Reduktion des Opfers auf eine Abstraktion
Als wir im Sommer 2022 nach Sighetu Marmatiei kamen, hörten wir am Bahnhof
sofort die Sirenen von der ukrainischen Seite zu uns hinüber heulen: Gleich
hinter der Theiß, durch welche die Grenze verläuft, herrschte Luftalarm,
weil die Russen ihre Mordgeräte in Bewegung gesetzt hatten, um wieder
Ukrainer zu töten. Zum geplanten Besuch des Elie Wiesel-Museums kam es
damals nicht, da es – vermutlich wegen Umbauten – geschlossen hatte, aber
ein Jahr später konnten wir ihn überraschenderweise nachholen. Das Museum
befindet sich in dem Haus, in dem Elie Wiesel aufgewachsen ist und bereits
das macht es zu einem besonderen Ort. Nachhaltig hängengeblieben vom Besuch
des Museums ist mir eine Rede, die Elie Wiesel 1999 im Weißen Haus gehalten
hat, sie trägt den Titel “Die Gefahren der Gleichgültigkeit” (“The Perils of Indifference”) und wurde im Museum filmisch vorgeführt. Ich
möchte etwas umfangreicher aus dieser bedeutsamen Rede zitieren, hier meine
deutsche Übersetzung:
Zitat: Natürlich, Gleichgültigkeit kann verlockend sein – mehr als das, verführerisch. Es ist um so vieles einfacher, von den Opfern abzusehen. Es ist um so vieles einfacher, die rüden Unterbrechungen unserer Arbeit, unserer Träume und unserer Hoffnungen zu vermeiden. Schließlich ist es unangenehm und lästig, am Schmerz und der Verzweiflung eines anderen Menschen teilzuhaben. Doch für die Person, die gleichgültig ist, sind ihre Nächsten ohne Bedeutung. Und deshalb sind deren Leben bedeutungslos. Ihre versteckten oder sogar sichtbaren Ängste sind uninteressant. Die Gleichgültigkeit reduziert den Anderen auf eine Abstraktion. [...]
Auf eine Weise macht die Gleichgültigkeit gegenüber diesem Leiden den Menschen unmenschlich. Gleichgültigkeit ist letztlich gefährlicher als Wut und Hass. Wut kann manchmal kreativ sein. Jemand schreibt ein großartiges Gedicht, eine großartige Symphonie. Jemand macht etwas besonders zum Wohle der Menschheit, weil er wütend über die Ungerechtigkeit ist, deren Zeuge er wurde. Aber Gleichgültigkeit ist niemals kreativ. Selbst Hass kann manchmal eine Antwort hervorrufen. Man bekämpft ihn. Man prangert ihn an. Man entwaffnet ihn.
Gleichgültigkeit jedoch ruft keine Antwort hervor. Gleichgültigkeit ist keine Antwort. Gleichgültigkeit ist kein Anfang, sie ist ein Ende. Und deswegen ist Gleichgültigkeit immer der Freund des Feindes, weil sie dem Aggressoren nützt, niemals dem Opfer, dessen Schmerz vergrößert wird, wenn es sich vergessen fühlt.
Die Gleichgültigkeit als gefährlicher als Wut und Hass einzustufen, hat bei
Elie Wiesels damaligem Publikum im Moment der Aussprache der These für
einige hochgezogene Augenbrauen gesorgt, aber die Irritation löste sich mit
den darauf folgenden Worten gleich wieder auf. Elie Wiesel hat damit etwas
sehr Wichtiges erkannt und ausgesprochen: Das Wegschauen, das Ignorieren,
das Nichtstun der Massen trägt ganz maßgeblich dazu bei, dass die
Befehlshaber und ihre Befohlenen abscheuliche Verbrechen ins Werk setzen
können. Durch ihre Gleichgültigkeit, durch ihre Passivität werden die nicht
direkt in die Verbrechen involvierten Massen ebenso zu Schuldigen. Jeder
Russe also, der sich heute in Russland nicht gegen den russischen Krieg
stellt und versucht, ihn zu beenden, ist schuldig an allen Opfern, die er
bereits verursacht hat und noch verursachen wird. Das kategorische ”Ich interessiere mich nicht für Politik”, welches man so oft in russischen Straßeninterviews hört, zählt nicht als
Ausrede. Alle Menschen in Russland und damit nicht allein die die
Verbrechen anordnenden und ausführenden sind verantwortlich dafür, was sie
als Land in der Welt anrichten. Es ist wie damals mit Deutschland: Viele
gaben nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches vor, nichts gewusst und
nichts Schlimmes getan zu haben: ”Ich bin es nicht, Adolf Hitler ist es gewesen”. Schäbige Ausreden, die ein Lernen, die ein moralisches Wachsen verhindern
und dazu führen können, dass ein ganzes Volk gleich wieder in die nächste
Katastrophe rennt. Russland lernt ja auch nichts aus seiner fürchterlichen
Geschichte, weil es überhaupt kein Verständnis von Schuld besitzt und sich
selbst immer als Opfer und im Recht wähnt: Nachdem es die Welt mit seinem
elenden Kommunismus zwangsbeglücken wollte und nach leidvollen Jahrzehnten
final damit scheiterte, ist dieses Mal ein gewaltvoller Faschismus sein
erbärmliches Exportgut.
Nichts wissen, nicht handeln, dem Bösen gefällig sein
Selbstverständlich beschränkt sich die angesprochene Problematik nicht auf
Russland, sie ist allgemein menschlich und vielfach historisch belegbar,
aber dort ist sie aktuell am größten und drängendsten. Hier in Deutschland
begegnet mir die gefährliche Gleichgültigkeit auch häufiger. Wie oft habe
ich schon von jemandem gehört, dass er beispielsweise keine Nachrichten
konsumiere, weil es ihn sowieso nur runterziehen würde und er nichts an den
Dingen, die in der Welt geschehen, ändern könne. Vielleicht glauben solche
Menschen, dass sie damit fein raus seien, eben wie es Elie Wiesel oben
geschildert hat, aber das sind sie nicht. Wir können uns nicht einfach dumm
stellen, um in einer trügerischen Ruhe zu leben. Aus der Zivilisation,
selbst wenn sie mit Füßen getreten, angegriffen und zeit- sowie ortsweise
außer Kraft gesetzt wird, und aus der globalisierten Welt führt dauerhaft
kein Weg zurück. Schon das Walden-Experiment, das Henry David Thoreau im
19. Jahrhundert als Einsiedler in einem Wald durchführte, musste daher
scheitern. In dem Buch, das Thoreau über das Experiment geschrieben hat,
gibt es auch eine Passage, in dem er die Ablehnung des Nachrichtenkonsums
begründet. Eine solche Haltung können wir uns heute nicht mehr erlauben,
denn wir müssen über die Verfasstheit der Welt informiert sein, damit wir
die Konsequenzen unseres Handelns und Nichthandelns abschätzen können. Wir
sind nämlich keine Einsiedler, und die Welt ist zu klein bzw. wir sind zu
viele, als dass wir alle Einsiedler werden könnten.
Wenn ein westliches Unternehmen heute noch immer in Russland aktiv ist, so
zahlt es dort Steuern, mit denen der russische Staat seinen Krieg gegen die
Ukraine unterhält. Ein solches Unternehmen finanziert also den Mord an
Ukrainern mit, und wenn wir solche Unternehmen unsererseits im Westen nicht
anprangern und boykottieren, dann ermuntern wir diese Unternehmen, ihr
Verhalten fortzusetzen und machen uns ebenfalls schuldig. Es ist eine
schwierige und oft vertrackte Sache, die wir eigentlich nur gemeinsam
angehen können.
Ähnlich ist es mit den Aushängeschildern der Unterhaltungsbranche des
faschistischen Russlands. Wenn wir heute einem Opernstar bei uns eine Bühne
geben, der bereits vor einigen Jahren die russische Besetzung des Donbas
begrüßt und befördert hat, und sei er auch in die Jahre gekommen und damit
fast am Ende seiner Karriere, signalisieren wir ihm unsere gefährliche Gleichgültigkeit: “Es ist egal, dass Du für das Böse arbeitest, singe uns einfach ein paar
schöne Lieder”. Das lässt sich in alle Bereiche hinein durchdeklinieren,
natürlich auch im Sport. Der internationale Wettkampf- und Leistungssport
ist ohnehin für Diktaturen seit jeher ein politisches Instrument, mit dem sie nach außen und innen ihre Stärke beweisen wollen.
Sport kann als gesellschaftliches Massenphänomen niemals unpolitisch sein.
Natürlich muss er trotzdem nicht die ganze Zeit über Politik reden.
Große moralische Aufgaben
Das Leben in der globalisierten Welt stellt uns vor große moralische
Aufgaben, die wir als Einzelpersonen nicht komplett über- und durchschauen
und denen wir natürlich auch nicht vollständig gerecht werden können, aber
wir müssen es immerhin versuchen, dieses Leben ein wenig besser zu machen,
sonst haben wir schon verloren und werden in neue Abgründe rasen, in die
wir auch unsere Mitmenschen mitreissen. Dabei gilt es stets, unsere eigene
Fehlbarkeit zu beachten und zu vermeiden, dass wir uns voller Eifer in die
nächste unumsetzbare Utopie stürzen, die doch nur wieder zu mehr Leid und
Elend führen würde.
Erinnern wir uns daher an Elie Wiesel und die Lehren, die er aus dem
Holocaust gezogen hat: Selbst und gerade, wenn wir durch die Hölle gegangen
sind, können wir noch einen positiven Beitrag für die Menschheit leisten.
Wenn wir uns mit Elie Wiesel befassen, geht es also nicht nur um die
schreckliche Vergangenheit, sondern ganz konkret unsere Gegenwart und wie
wir diese derart gestalten, dass das Gute, das Leben und das Licht die
Oberhand behalten und die Angriffe des Bösen, des unnatürlichen Todes und
der totalen Dunkelheit abgewehrt werden. Auch wenn wir nicht die Ressourcen
haben, uns mit allen Konflikten gleichzeitig zu befassen, dürfen wir es uns
nicht erlauben, gleichgültig zu sein – vor allem nicht gegenüber dem, was
in unserer nächsten Nachbarschaft geschieht und worauf wir tatsächlich
einen Einfluss haben können: Gleichgültigkeit ist letztlich gefährlicher als Wut und Hass.
Wenn wir ganze Menschen werden oder bleiben wollen, müssen wir neugierig
auf das sein, was in der Welt geschieht, und humanistische Positionen
beziehen und nach ihnen handeln. Ein anderer Weg, das Gute zu mehren und
das Böse zu mindern, ist schwer vorstellbar.