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Russophobie

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Russophobie? Keine Angst vor Russland!

Über den russischen Mathematiker Schafarewitsch, den Popularisierer des Wortes, und seinen gleichnamigen Essay aus den frühen 1980er Jahren

Große, positive Nachrichten aus Russland gibt es eigentlich nur, wenn dort endlich ein Diktator oder kleinerer Verbrecher wegstirbt oder es wieder einmal kollabiert, allerdings zog das bisher immer bloß kurze Verschnaufpausen für die Menschheit nach sich, die enden, wenn sich Russland wieder etwas stabilisiert hat und dann erneut zum Angriff übergeht. Im Kern aber bleibt sich Russland, wenn wir es etwas unscharf durchweg so nennen dürfen, treu – und das seit der Auslöschung der Nowgoroder Republik. Das ist verwunderlich und verlangt nach Erklärungen. Erklärungen, die auch Russen immer wieder zu geben versuchen, und daher existiert nicht wenig Literatur zur Geschichte Russlands und zur “russischen Idee”. Indem wir uns mit diesen Erklärungsversuchen befassen, können wir verstehen lernen, wie Russland sich selbst versteht – schließlich ist es wichtig, seinen Feind zu verstehen.

Ein sowjetischer Dissident mit Lenin-Orden
Einen der vielen Deutungsversuche der russischen Geschichte “verdanken” wir dem russischen Mathematiker Igor Rostislawowitsch Schafarewitsch, der 1923 im ukrainischen Schitomir geboren wurde und 2017 im Herz der Finsternis, also Moskau, starb. Als Träger des Lenin-Ordens (1959 verliehen) war er eine der wissenschaftlichen Stützen des kommunistischen Regimes, fiel jedoch in Ungnade, als er sich den Dissidenten annäherte und beispielsweise eine Petition für Sacharow und Solschenizyn unterschrieb. 1975 wurde er daher als Professor an der Moskauer Universität entlassen.

Der Essay
Schafarewitsch ist der Verfasser eines “Russophobie” genannten Essays, der in der Sowjetunion seit 1981 im Samizdat kursierte und 1989 schließlich regulär in einer Zeitschrift mit dem Hinweis erschien, dass sein Inhalt nach wie vor aktuell sei. Vor allem wegen der anti-semitischen Untertöne (oder Töne?) hat er seinerzeit in den internationalen akademischen Kreisen, in denen sich Schafarewitsch bewegte, für Aufregung gesorgt. Der Titel “Russophobie” ist durchaus anklagend gemeint: Wie so viele Denker vor ihm, möchte Schafarewitsch Russland vor seinen Kritikern retten und behauptet, dass es schon auf den rechten Weg gelänge, wenn es nur auf sich selbst hören würde. Er beginnt mit einer Analyse des Ist-Zustandes und stellt fest, dass die verschiedensten Meinungen hinsichtlich des geistigen Lebens in der Sowjetunion nebeneinander existierten: Es gäbe Marxisten, Monarchisten, ukrainische oder jüdische “Nationalisten” usw.; aber es sei schwer einzuschätzen, wie zahlreich diese seien, da es keine soziologischen Studien zu diesem Thema gäbe.

Beispiele “russophober” Anschauungen
Etwas weiter im Text trägt Schafarewitsch einige typische westliche Urteile über Russland vor, denen er natürlich widerspricht und die für ihn typisch für “Russophobie” sind:

Zitat:

Die Geschichte Russlands, beginnend mit dem frühen Mittelalter, ist durch bestimmte „archetypische“ russische Merkmale definiert: eine unterwürfige Mentalität, mangelndes Selbstwertgefühl, Intoleranz gegenüber fremden Ansichten und eine Lakaienmischung aus Gefühlen von Bosheit, Neid und Bewunderung gegenüber fremden Mächten. [...]

Infolgedessen befand sich Russland immer wieder in den Fängen despotischer Regime und blutiger Katastrophen. Der Beweis liegt in der Zeit von Iwan dem Schrecklichen, Peter I. und Stalin.

Aber die Russen sind nicht in der Lage, die Gründe für ihr Unglück zu verstehen. Sie blicken mit Argwohn und Feindseligkeit auf alles Fremde und neigen dazu, jedem, der nur erdenklich ist, die Schuld für ihr Leid zu geben – Tataren, Griechen, Deutsche, Juden – solange es nicht sie selbst sind.

Die Revolution von 1917 hatte ihren natürlichen Ursprung in der gesamten russischen Geschichte. Im Wesentlichen war es keine marxistische Revolution. Der Marxismus wurde von den Russen entstellt, verändert und zur Wiederherstellung alter russischer Traditionen eines starken Regimes genutzt. [...]

Die Russen haben lediglich ihre historische Ohnmacht demonstriert, und Russland ist zum bevorstehenden Zusammenbruch und zur Zerstörung verurteilt.


So weit also ein Ausschnitt aus den Thesen, denen sich Schafarewitsch in seinem Essay entgegenstellen möchte. Ich springe etwas weiter nach vorn im Text: Schafarewitsch ist es wichtig, festzuhalten, dass es in Russland keine Utopisten wie Thomas Morus oder Tommaso Campanella gegeben hätte und dass ”der Sozialismus gänzlich aus dem Westen nach Russland gebracht worden ist”. Eine interessante Feststellung und man ahnt, worauf der Autor hinaus möchte – denn er wird ja nicht ohne Grund die Formulierung “nach Russland gebracht worden” benutzt haben, wobei wir natürlich skeptisch sein müssen: Wurde der Sozialismus nach Russland gebracht oder haben Russen den Sozialismus nach Russland geholt? Das scheint mir ein nicht gerade geringer Unterschied zu sein. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew hat zu dem Thema jedenfalls festgehalten:

Zitat:

Die ersten Marxisten waren Russen. Einer der allerersten Marx-Jünger war ein russischer Landjunker aus der Steppe namens Sasonow, der in Paris lebte. Marx mochte die Russen nicht sonderlich, und er war verwundert darüber, dass er unter den Russen eher als im Westen Anhänger fand. Er sah die Rolle, die Russland spielen sollte, nicht voraus. Unter den Russen hatte der Sozialismus einen religiösen Charakter, selbst wenn er atheistisch war.

– Nikolaj Berdjajew - “Die russische Idee” (1946), von mir übersetzt aus dem Englischen


Mit Whataboutism gegen die Geschichtswissenschaft
Besonders kritisiert werden von Schafarewitsch die Historiker Richard Pipes und Alexander Janow. Rhetorisch fragt er den Leser oder sich selbst, ob diese Leute überhaupt an der Wahrheit interessiert seien? Er wirft ihnen geheime Absichten vor und ergeht sich in einer russischen Spezialität: Dem extensiven Whataboutism, indem er plötzlich Opferzahlen präsentiert, welche die USA, Frankreich und Deutschland produziert haben. Die empörte Rhetorik geht weiter:

Zitat:

Warum war es notwendig, den Lesern die Ansicht einzuprägen, dass die Russen eine Nation von Sklaven sind, die schon immer Grausamkeit verehrten und vor mächtigen Autoritäten kriechen, alles Fremde hassten und der Kultur feindlich gegenüberstanden, und dass Russland eine für den Rest der Welt gefährlich ewige Brutstätte von Despotismus und Totalitarismus ist?


Wir müssen dem verehrten Herrn Mathematiker antworten: Weil es leider bis zum heutigen Tage die Wahrheit ist, wie die mörderischen und barbarischen Aktivitäten Russlands in den letzten Jahren, besonders in Tschetschenien, Georgien, Syrien und der Ukraine beweisen. Die USA bringen keine Indianer mehr um, sie importieren auch keine Sklaven aus Afrika, Deutschland und Frankreich haben sich geläutert, Russland aber ist sich, wie ich schon eingangs schrieb, treu geblieben, weil es nie aus seiner Geschichte lernt, weil es sich immer nur als Opfer und im Recht wähnt, weil es von Anfang an ein gnadenloses Gewaltprojekt ohne höhere Moral ist, das Genozid um Genozid verübt. Dass sich jemand wie Nikolai Epplée (“Die unbequeme Vergangenheit”, übersetzt von Anselm Bühling) oder Juri Alexejewitsch Dmitrijew (”Erschießungsort Sandomorch”) ernst- und gewissenhaft, der Wahrheit verbunden mit der russischen Vergangenheit auseinandersetzt, ist leider eher die Ausnahme. Der russische Staat beharrt auf den Lügen, auf die seine Existenz aufgebaut ist, und verfolgt jene, die diesen widersprechen.

Eine eingetroffene Vorhersage
Schafarewitsch findet es irgendwie gemein, wenn ein gewisser unter Pseudonym schreibender Gorskij ätzende Behauptungen aufstellt wie:

Zitat:

Der russische Mensch, wenn er überhaupt in der Lage ist, unabhängig zu denken, quält sich immer noch mit der Frage: Was ist Russland? Was ist der Sinn seiner Existenz? Welchen Zweck und welchen Platz hat es in der Weltgeschichte?


Und dann hat der Berkeley-Professor Alexander Janow auch noch Sympathie mit diesem Gorskij! Ich meinerseits habe große Sympathien mit Alexander Janow, der bereits in den 1970er Jahren vor der nationalistischen Wende in Russland warnte: Die Zutaten zur heutigen Misere waren damals bereits alle vorhanden, und auf das sogenannte “Weimar Russland” der 1990er folgte bald der faschistische Putinismus. Die “Punkte” für die genauere Vorhersage der Zukunft gehen damit klar an den Historiker Janow und nicht an den Mathematiker Schafarewitsch – was natürlich ein bitterer Sieg ist.

Ein Sauerteig, der sich ausbreitet
Wieder weiter nach vorn im Text. Schafarewitsch hat uns noch ein paar “russophobe” Zitate zusammengetragen, durchaus lesenswert, hier von einer anonymen Person:

Zitat:

Russland hat mehr Böses in die Welt gebracht als jedes andere Land


die auch folgendes zu berichten weiß:

Zitat:

Ein uralter Gestank der Trostlosigkeit an einem heiligen Ort, getarnt im Gewand einer messianischen ‚Wahl‘, die jahrhundertealte Arroganz der ‚russischen Idee‘.“


Andrei Alexejewitsch Amalrik, ein 1938 in Moskau geborener Historiker, soll über Russland gesagt haben:

Zitat:

Ein Land, das sich über Jahrhunderte wie Sauerteig erhoben und ausgebreitet hat und keine anderen Aufgaben für sich sieht.


– was natürlich eine ziemliche Verharmlosung der gewaltvollen Vergrößerung, wie sie über die eben erwähnten Jahrhunderte stattgefunden hat, darstellt, aber das Bild trifft die Realität dennoch. Russland: Ein Sauerteig, der nur an seiner zunehmenden Größe interessiert ist!

Die anderen sind schuld
Schafarewitsch scheint Russen, Ukrainer und Belarussen als ein Volk oder zumindest als eine zusammengehörige Einheit zu sehen, als das “größere Volk”, das er mit den Minderheiten im russischen Imperium kontrastiert, die nur die “kleineren Völker” abgeben und die maßgeblich vom Judentum beeinflusst werden würden. Es folgen etliche Seiten, auf denen sich Schafarewitsch sehr breit über die Juden auslässt, die ich aber hier nicht kommentieren kann, weil mein Artikel einen anderen Fokus hat. Dennoch kann ich es nicht unterlassen, an dieser Stelle noch einmal ein Zitat anzubringen, das wir aus dem Essay bereits kennen:

Zitat:

Aber die Russen sind nicht in der Lage, die Gründe für ihr Unglück zu verstehen. Sie blicken mit Argwohn und Feindseligkeit auf alles Fremde und neigen dazu, jedem, der nur erdenklich ist, die Schuld für ihr Leid zu geben – Tataren, Griechen, Deutsche, Juden – solange es nicht sie selbst sind.


Was macht Schafarewitsch denn anderes, als dem Westen und auch den Juden die Schuld am russischen Leid zu geben?

Unehrliche Abwehr der Wirklichkeit
Schauen wir ganz kurz auf die Zeit, in der Schafarewitsch seinen Essay verfasst hat. Anfang der 1980er zeichnete sich eine kommende existenzielle Krise des sowjetischen Gewaltsystems immer deutlicher ab. Schon im Jahr 1969 hatte sich der bereits erwähnte Historiker Amalrik in einem Artikel gefragt, ob die Sowjetunion überhaupt das Jahr 1984 erleben würde … Zeit also für existenzielle Fragen, Zeit für Ehrlichkeit. Eigentlich.

Wir dürfen Schafarewitsch immerhin dankbar sein, dass er uns einige “russophobe” Bonmots zusammengetragen hat, es gelingt ihm aber nicht, dort, wo er es versucht, diese überzeugend argumentativ zu widerlegen. Ihre “Ungeheuerlichkeit” soll wohl auch für sich selbst sprechen, dabei wird nur ein weiteres Mal klar, dass diese von offiziellen Russen (Lawrow, Solowjow & Co.) während der Putin-Diktatur so häufig angeprangerte “Russophobie” doch eher ein “Russorealismus” ist. Vor Russland sollte man schließlich, auch wenn es grausam ist und über ein riesiges Gewaltpotential verfügt, keine Angst haben, denn wenn man Angst vor ihm hat, hat man schon fast verloren.

Der importierte Sozialismus – ein Fremdkörper?
Der für mich interessanteste Punkt in Schafarewitsch Essay jedenfalls ist die Stelle, die wir bereits besprochen haben, als er den Sozialismus als westlichen Import darstellt und damit nicht direkt ausgesprochen Russland exkulpieren will, da die bösen Ideen ja aus dem Westen seien. Selbstverständlich tragen die Entwickler sozialistischer Ideen eine Verantwortung, so wie jeder Autor eine Verantwortung für das trägt, was er schreibt und schließlich publiziert, aber man kann einem Autoren nicht alle schwer absehbaren Handlungen seiner Leser anlasten. Goethe hat sicherlich eine gewisse Schuld auf sich geladen, indem er den Werther publizierte, aber er hat niemanden aufgefordert, sich umzubringen, und daher kann ich dem ja schon verstorbenen Schafarewitsch gern etwas polemisch antworten: Was kann der Westen dafür, wenn Russland aus ihm nur die kommunistische Scheiße importiert und diese seinen Leuten dann morgens, mittags und abends serviert hat? Und natürlich auch in allen Phasen dazwischen, und selbstverständlich auch in allen Nachbarländern, die man erobern konnte. Armes Russland, wie bist Du nur vom Westen betrogen worden? Und warum hat man nicht zuerst irgendwo im Westen den Kommunismus errichtet? Warum also hat Russland die kommunistische Scheiße bevorzugt, aber das, was gut am Westen war, die menschlichen Werte, die sich entwickelnden Demokratien, die Rechtsstaatlichkeit etc. verschmäht? Diese Fragen kann nur Russland beantworten – und es würde ihm sehr helfen, wenn es endlich versuchte, sie einmal zu beantworten, aber es hat ja gar kein Interesse daran, weil ehrliche Antworten darauf seine beendenswürdige Existenz infrage stellen würden.

Russland, nicht der Westen, hat sich den Roten Terror ausgedacht und durchgeführt.
Russland, nicht der Westen, hat den GuLag noch vor den deutschen KZs erfunden und betrieben.
Russland, nicht der Westen, hat den Holodomor in der Ukraine und die Hungersnot in Kasachstan verursacht.
Russland, nicht der Westen, hat den Großen Terror unter Stalin erfunden und durchgeführt.
Russland, nicht der Westen, hat in seinem Herrschaftsbereich Millionen Menschen ihrer Kultur beraubt, sie entrechtet, eingesperrt, deportiert und hingerichtet.
Russland, nicht der Westen, hat Osteuropa im 20. Jahrhundert okkupiert und mit seiner unmenschlichen Diktatur nachhaltig geschädigt.


Russophobie als Kampfbegriff
Schafarewitsch dürfen wir vielleicht nicht als Urheber, aber doch als entscheidenden Popularisierer des Wortes “Russophobie” betrachten. Schauen wir uns die Wortverlaufskurve im DWDS-Zeitungskorpus an, sehen wir einen Höcker in der Mitte der 1980er Jahre, die Erstnennung, wenn kein Darstellungsfehler vorliegt, erfolgte 1952, und ab 2019 beobachten wir dann einen ziemlich starken Anstieg. Die Anklage “Russophobie” wird – wie gesagt – sehr häufig vom offiziellen Putin-Russland gegen jene angebracht, die Russlands Verbrechen in irgendeiner Weise kritisieren. Sie ist fast immer ein lächerlicher Vorwurf, mit dem sich das Täter-Russland selbst als bedauernswertes Opfer darstellt. Auf diesen Vorwurf aber fallen nur Idioten herein – und davon gibt es leider doch mehr als genug.

Auch wenn weniges sicher ist in dieser unsicheren Welt: Der nächste Zusammenbruch Russlands kommt bestimmt. Darauf, dass es dann einmal etwas daraus lernen wird, können wir uns nicht verlassen, aber wir sollten darauf vorbereitet sein, die Gelegenheit wahrzunehmen, es weiter einzudämmen, so dass es immer weniger Schaden auf der Welt anrichten kann. Seien wir also russorealistisch und erstreben das wünschenswert-Mögliche:

Nieder mit dem russischen Imperium!

Veröffentlicht am 27.08.2023

© 2023 by Arne-Wigand Baganz

Note: 1 · Aufrufe: 657

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