“Все буде
добре” (“Alles wird gut”) heißt eines der Lieder, die ich in diesen schrecklichen
Tagen manchmal höre. Es stammt von einer der populärsten ukrainischen
Bands: Okean Elzy. Sie wurde bereits 1994 in Lwiw (Lemberg) gegründet und hat inzwischen
zahllose Klassiker eingespielt. Noch kurz vor dem jetzigen Krieg Russlands
gegen die Ukraine gab ihr immer gesellschaftlich engagierter Sänger
Swjatoslaw Wakartschuk ein kostenloses Konzert auf der erst 2019
eingeweihten neuen Glasbrücke in Kyjiw, um die Stadtbewohner in der
bedrohlichen Lage, die sich damals schon mehr als deutlich abgezeichnet
hat, aufzumuntern.
Man musste jeden Tag mit dem schlimmsten rechnen.
Das schlimmste ist – wie wir wissen – inzwischen eingetroffen: Russland ist
erneut in die Ukraine einmarschiert und führt dort einen verbrecherischen
Krieg, der sich vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung und ihre
Infrastruktur richtet.
Es sind fürchterliche Umstände, in denen viele Menschen außerhalb der
Ukraine das erste Mal umfassender von diesem Land, seinen Menschen und
Städten erfahren. Die Katastrophen von 2014, der Raub der Krim, die
partielle Besetzung des Donbass durch Russland haben viele in Deutschland
noch leichtfertig abgetan, leider sind sie dabei oft der russischen
Propaganda auf den Leim gegangen, und Unverbesserliche tun es noch heute:
Sie hätten gern wieder ihre Ruhe, um sich ungestört mit den schönen Dingen ihres Lebens beschäftigen zu können.
“Soll die Ukraine doch die Waffen niederlegen”, sagen sie, “und Putin
geben, was er will, dann hört auch das Morden auf!”. Diese kurzsichtigen
und kaltherzigen Menschen machen mich nach wie vor fassungslos. Das
tragische ist: Nicht alle sind durchweg Idioten. Was könnte ich zu ihrer
Verteidigung sagen? Vielleicht kennen sie die Ukraine nicht und übernehmen
deswegen die Perspektive des russischen Täters? Vielleicht haben sie diese
russischen Märchen zu lange erzählt bekommen, haben sich zu tief verirrt,
als dass sie ihre Irrtümer noch eingestehen wollten?
Es hat auch bei mir lange gedauert, bis ich die Ukraine verstanden habe –
wahrscheinlich sogar bis zur Wiederwahl Janukowitschs 2010, als plötzlich
wieder ein kälterer Wind im Land wehte. Mit Interesse hatte ich bereits die
Orangene Revolution 2004/05 verfolgt, war aber später von den Ergebnissen
enttäuscht. Ab 2005 habe ich das Land regelmäßig besucht, anfangs hat man
noch zahlreiche Überbleibsel aus der Sowjetzeit leibhaftig erleben können,
aber die Ukraine hat sich von Jahr zu Jahr gewandelt, sich dem Westen
angenähert, ist schließlich durch den Euromaidan 2013/14 eine authentische
und wehrhafte Demokratie geworden, in der es den Menschen – trotz der
jahrelang andauernden russischen Aggression – fortschreitend besser ging.
Natürlich schäme ich mich ein wenig für meine frühere Uninformiertheit,
aber so, wie ich das Land entdeckte, musste es sich teilweise auch selbst
erst entdecken: Das allgemeine Nationalbewusstsein in der Ukraine ist heute
ein ganz anderes als noch 2004 oder 2012, und daran haben auch die
russischen Angriffe ihren Anteil: Sie haben die Ukrainer über alle
Altersschichten innerlich zusammengeschweisst. Man sieht ihren gemeinsamen
Widerstand dieser Tage in derzeit von Russen besetzten Städten wie Nowa
Kachowka, Starobilsk, Cherson und Melitopol, wo sie unter Einsatz ihres
Lebens für ihr Land demonstrieren.
Die Ukrainer geben nicht auf. Sie sind ein Volk, das die Freiheit liebt und
diese durch den ausdauernden Kampf für sie mehr als verdient hat.
Als ich Lwiw Anfang Januar nach dem Neujahrsfest verließ, habe ich nicht
ahnen können, dass ich in die Ukraine, wie ich sie kannte, nie mehr
zurückkehren werde. Der gräßliche Krieg hat das Land schon zu sehr
verändert, so viele Menschen sind geflüchtet, wurden verletzt, ermordet, so
viele Häuser und Orte beschädigt oder zerstört.
Russland führt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, in dem Putin nun
vollenden will, was zuletzt Stalin als praktische Aufgabe angesehen hat:
Die Auslöschung der ukrainischen Nation. Das muss uns vollkommen klar sein.
Der jetzige russische Diktator hat es mehrfach offen ausgesprochen.
Wird irgendwann alles gut, wie es uns das Lied von Okean Elzy verspricht?
Man muss es hoffen, auch wenn die Toten nicht wieder lebendig, die
Versehrten nicht wieder unversehrt werden; man darf die Hoffnung nicht
aufgeben. In den dunklen Tagen des Krieges braucht es diese Hoffnung,
braucht es Mut und Solidarität – gerade auch in und von jenen Menschen in
der freien Welt, die nicht direkt vom russischen Krieg gegen die Ukraine
betroffen sind. Wir können Geld für humanitäre Hilfe und defensive Waffen
spenden, Geflüchteten helfen, uns über das Land und die Geschehnisse aus
verlässlichen Quellen informieren, andere Menschen aufklären, auf den
Straßen protestieren, unsere Politiker unter Druck setzen, dass sie die
Ukraine nicht opfern …
Wir freiheitsliebenden Menschen müssen an der Seite der Ukraine bleiben,
dürfen sie nicht schon in zwei Wochen wieder vergessen, weil dann
vielleicht andere Themen unsere Medien dominieren, oder weil wir müde
geworden sind, hinzuschauen, das Hinschauen nicht mehr aushalten.
Wir müssen der Ukraine und den Ukrainern helfen, wo wir nur können.
Wie heisst es im eingangs zitierten Lied weiter?
“Alles wird gut, für jeden von uns. Alles wird gut, unsere Zeit wird
kommen”.
Ich weiß, dass das nicht ganz in Erfüllung gehen kann – und versuche
trotzdem, daran zu glauben; wie sonst kann man die fürchterlichen
Ereignisse ertragen?
Meine Gedanken sind in diesen Tagen bei den Menschen in der Ukraine, deren
Gesundheit und Leben in Gefahr ist, sind bei denen, die versuchen, ihr Land
gegen den russischen Aggressor zu verteidigen, sind bei all jenen, die sich
dafür einsetzen, dass auch dieses Mal das Gute schließlich siegen wird.
Die Ukraine muss und wird gewinnen.
Lang lebe die freie Ukraine!