Der ukrainische Dichter Wassyl Symonenko (* 1935 – † 1963) ist eines der
vielen Beispiele dafür, wie das imperialistische Russland in seinen
unterschiedlichen Erscheinungsformen die ukrainische Kultur und diejenigen,
die sie erschaffen, seit Jahrhunderten vernichtet und warum die Welt
letztendlich so wenig von ihr weiß, denn wie hätte sie zur Blüte gelangen
können, wenn doch viele ihrer talentiertesten Vertreter oft schon in jungen
Jahren getötet wurden und leider immer noch werden?
Gemeinsam mit Alla Horska und Les Tanjuk hatte Wassyl Symonenko Anfang der
1960er Jahre versucht, die Massengräber des sowjetischen Geheimdienstes
NKWD in der Nähe von Kyjiw ausfindig zu machen. Es gelang ihnen, in der
Nähe von Bykiwnja eine Grabstätte zu entdecken. Diese Aufklärungsarbeit
konnte und wollte das totalitäre kommunistische Regime nicht dulden: Die
stalinistischen Verbrechen sollten geheim bleiben.
Wassyl Symonenko wurde von der örtlichen Miliz auf einem Bahnhof schwer
misshandelt. Bald darauf starb er an Organversagen.
Symonenko wurde nur 28 Jahre alt.
Symonenkos Gedicht „Weißt Du, dass Du ein Mensch bist“, das am 16.11.1962 entstand, gilt in der Ukraine als Klassiker. In ihm
geht es um das Menschsein und darum, das eigene Leben, das nicht von Dauer
ist, so zu nutzen, dass man sich daran erfreuen kann.
Als westliche Leser, die an die Freiheit gewöhnt sind, mag uns der Inhalt
des Gedichtes vielleicht banal erscheinen, aber das war so ein Text in der
Sowjetunion keinesfalls. Vor dem sowjetischen Hintergrund gelesen ist die
zentrale Botschaft des Gedichtes:
Auch in einem unmenschlichen System bist Du ein Mensch! – ob Du es nun
willst oder nicht.
Dadurch, dass er versucht hat, Licht in das Dunkel der verbrecherischen
Geschichte des Moskauer Unterdrückungssystems zu bringen, und durch das
Verfassen seiner freigeistigen Gedichte wurde Symonenko ein Streiter für
die Menschlichkeit. Er hat sich selbst zu einem guten Menschen gemacht, er
wurde ein Vorbild im Kampf gegen das Böse, das uns durch alle Zeiten hinweg
immer wieder herausfordert und dem wir uns stellen müssen. Symonenko lebte
in einer Zeit und in einem Land, in der und in dem das Böse nahezu
allmächtig gewesen ist. Den beinahe aussichtslosen Kampf für das Gute
trotzdem aufgenommen zu haben, ist sein außerordentliches Verdienst.
Ich habe versucht, das Gedicht reimlos in das Deutsche zu übertragen, um
seinen Sinn und seine Struktur möglichst gut zu erhalten:
Zitat: Weißt Du, dass Du ein Mensch bist?
Weißt Du es oder nicht?
Einzigartig – Dein Lächeln.
Einzigartig – Dein Leiden.
Einzigartig – Deine Augen.
Einmal wirst Du nicht mehr sein.
Bald werden auf dieser Erde
andere Menschen gehen,
andere Menschen lieben –
gute, freundliche und böse.
Noch ist das alles für Dich:
Seen, Haine, Steppen.
Du solltest Dich beeilen,
zu leben, zu lieben.
Sieh zu, verschlafe es nicht.
Denn ein Mensch bist Du auf der Erde,
ob Du es willst oder nicht:
Einzigartig – Dein Lächeln.
Einzigartig – Dein Leiden.
Einzigartig – Deine Augen.