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Lautréamont – Die Gesänge des Maldoror

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Isidore Lucien Ducasse (1846 – 1870) alias Lautréamont

Ein historisches, verstörendes Stück Anti-Literatur

„Die Gesänge des Maldoror” („Chants de Maldoror”) ist eine der absonderlichsten, negativen Schriften in der Literaturgeschichte, die es zumindest zu einer gewissen Anzahl von Lesern gebracht hat, allerdings hat ihr Autor nichts mehr von der erfolgreichen Wirkung seines Schreibens mitbekommen dürfen, denn er starb weit vor ihrer Entfaltung.

Wonnen der Grausamkeit
Man kann es sich so einfach wie der Linguist Roman Jakobson machen und sagen, dass Isidore Lucien Ducasse (1846 – 1870) alias Lautréamont, der Schöpfer der Gesänge, verrückt gewesen ist und sich gleichzeitig fragen, was er denn geschrieben hätte, wenn er es nicht gewesen wäre, ich aber denke nicht, dass man ihm damit gerecht wird. Als Lautréamont „Die Gesänge des Maldoror” verfasste, war er gerade Anfang zwanzig und ganz sicherlich jemand, der weder seinen Platz in der Welt noch zu einem reifen Schreibstil gefunden hatte, und dennoch ist es absolut beachtlich, was er erschaffen hat. Lautréamont ist ein Suchender gewesen, der innerhalb seines Textes immer wieder (er)klären wollte, warum er diesen genau so und nicht anders geschrieben hat. Menschlichen Beifall zu erlangen, zu Ruhm zu kommen, war – glaubt man seinen Aussagen – nicht sein Ziel, und dennoch hat sich Lautréamont um die Veröffentlichung seines Werkes bemüht, ja, seinen ersten Gesang sogar Victor Hugo zukommen lassen. Was aber sollten die Leser mit den von Lautréamont geschilderten „Wonnen der Grausamkeit” anfangen? Der Autor war sich bewusst, dass er einen ziemlich schwer verdaulichen Text verfasst hatte, und ähnlich wie Friedrich Nietzsche, der seinem „Also sprach Zarathustra” den bezeichnenden Untertitel „Ein Buch für Alle und Keinen” gab, wies Lautréamont selbst auf diesen Umstand hin:

Zitat:

Gebe der Himmel, daß der Leser, erkühnt und augenblicklich von grausamer Lust gepackt gleich dem, was er liest, seinen steilen und wilden Weg durch die trostlosen Sümpfe dieser finsteren und gifterfüllten Seiten finde, ohne die Richtung zu verlieren; denn wofern er nicht mit unerbittlicher Logik und einer geistigen Spannung, die wenigstens seinen Argwohn aufwiegt, an diese Lektüre geht, werden die tödlichen Emanationen dieses Buches seine Seele durchtränken wie das Wasser den Zucker. Es ist nicht gut, dass jedermann die folgenden Seiten lese; nur einzelne werden diese bittere Frucht gefahrlos genießen.


Der Maldoror ist also für wenige Einzelne, quasi Auserwählte, geschrieben worden. Wer ihn liest, darf sich als etwas Besonderes fühlen – obwohl es ihn gar nicht zu einem anderen Menschen macht, aber es ist ein interessanter Kniff des Autors, mit dem er ihnen mehr zu geben vorspiegelt als nur seinen insgesamt doch sehr wirren Text.

Schreiben in absoluter Freiheit
Ich selbst habe das Buch erst vor kurzem gelesen. Vor ungefähr zwanzig Jahren spielte ich bereits einmal mit dem Gedanken, aber ich entschied mich aus mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen dagegen, und auch bei der nun vollzogenen Lektüre fragte ich mich schon nach etwa 100 Seiten: Das ist ja alles reichlich kreativ geschrieben, aber die Luft ist bereits raus, ich fange an, mich zu langweilen. Will ich das Werk wirklich durchlesen? Wenn es nicht eine so verblüffende Wirkungsgeschichte gehabt hätte, würde ich sicherlich aufgegeben haben, aber es gab noch einen zusätzlichen Grund, weiterzulesen: Der Schriftsteller war mir seltsam sympathisch, obschon er alles versuchte, überhaupt nicht sympathisch zu wirken; und ich erkannte in ihm, in seinem Schreiben, Teile meines jüngeren, dunklen Selbst wieder. Die Grausamkeiten, ja, die Perversitäten, die Lautréamont schildert, dürfen wir nicht wörtlich nehmen. Da ist doch nur jemand, der sich daran berauscht, was er in ein paar tausend abenteuerlichen Sätzen anrichten kann, ohne dass ihn jemand dafür bestraft und ohne dass es groß in die Wirklichkeit hinüberwirkt. In den Worten, die er niederschreibt, erlebt Lautréamont die absolute Freiheit, und er kostet sie voll aus. Er geht an die ihm bekannten Grenzen der Moral, er geht über sie hinaus. Er möchte provozieren und schockieren, er möchte einen Rekord des Negativen aufstellen – und bleibt in seinem Herzen doch ein guter Kerl, der weiß, dass das, was er schreibt, eigentlich alles verwerflich ist, aber er hat seine Freude daran, also füllt er Seite um Seite mit seinen nahezu durchweg abstrusen, nicht wirklich kohärenten Ideen.

Der Schriftsteller als öffentlich Leidender
Wenn man „Die Gesänge des Maldoror” liest, nimmt man teil an dem künstlerischen Schöpfungsprozess, den Lautréamont selbst durchlebt hat. Man sieht den Autoren vor sich, wie er aus Bibliotheken ausgeliehene Lexika und andere Sachbücher wälzt und sich von ihren Einträgen und Texten sehr stark inspirieren lässt, so stark, dass er manchmal direkt wörtlich aus ihnen zitiert, wenn er beispielsweise irgendein seltsames Getier beschreibt. Es ist eine Masche, die den Leser schnell ermüden kann, aber Lautréamont hat sie durchgezogen. Wer kennt heute noch seine Quellen, und wer kennt, was er daraus erschaffen hat? Es handelt sich hier vielleicht um einen der wenigen Fälle, in welchem der Erfolg jemandem wirklich einmal recht gegeben hat.
Mit dem, was er schilderte, wollte Lautréamont die Menschen abstoßen, gleichzeitig wollte er aber dafür auch gemocht werden, wahrscheinlich von deutlich mehr als den eingangs erwähnten wenigen. Hat das Sinn gemacht? Natürlich nicht, weil das eigentlich nicht funktionieren kann, da das eine das andere ausschließt. Nur die Surrealisten haben Lautréamont postum auf ihren Schild gehoben …
Der Autor der Gesänge des Maldoror ist ein tief Leidender, der unser Mitleid erwecken kann, und er ist auch jemand, der sich sehr von der Gesellschaft ausgestoßen fühlt, jemand, der mit der Menschheit bereits in jungen Jahren fertig ist und nichts mehr von ihr erwartet. Gut, hat er sich gesagt, dann bin ich eben ein Ausgestoßener, und ich zeige Euch allen einmal, wie weit entfernt von Euch mein Leben ist und was ich mir für wilde Dinge in meinem Kopf ausdenken kann, da wird Euch noch ganz schwindlig und schlecht werden! Wenn Ihr mich als Guten nicht erkennt, dann werde ich Euch dazu bringen, den Bösen in mir zu ächten. Aus fehlender Achtung wird erzwungene Ächtung, nur ignoriert werden möchte der Schriftsteller nicht – denn dann könnte er auch tot sein.

Der Ausgestoßene wird Schöpfer einer düsteren Parallelwelt
Durch sein Schreiben liefert sich Lautréamont selbst einen gut verstehbaren Grund für sein Ausgestoßensein. Aber woran fehlt es ihm denn eigentlich, mag man sich als Leser fragen, und das ist vielleicht einer der banaleren Gründe für den unwahrscheinlichen Erfolg des Werkes, obwohl man es nicht als besonders gelungen bezeichnen kann: Der reichlich talentierte Lautréamont ist im Alter von nur 24 Jahren gestorben, und allein über seine literarischen Hinterlassenschaften können wir uns mit seinem kurzen, für uns immer rätselhaften Leben verbinden.
Gibt es in dem wüsten Text des Maldoror eine Art Schlüssel, mit dem wir uns erklären können, was seinen Autoren wirklich bewegt hat? Vielleicht, wenn wir uns erlauben, ihm starke autobiographische Einflüsse zu unterstellen. Was schreibt Lautréamont denn im fünften der insgesamt sechs Gesänge?

Zitat:

Ich liebe die Frauen nicht! Nicht einmal Hermaphroditen! Ich brauche Wesen, die mir gleichen, auf deren Stirn der menschliche Adel in scharfen und unauslöschlichen Zeichen geschrieben steht! Seid ihr sicher, dass die Natur derer, die lange Haare tragen, der meinen gleiche? Ich glaube es nicht und werde von meiner Meinung nicht lassen.


Ist das nicht ein sehr deutliches Bekenntnis zur Homosexualität? Und wie sieht es mit der folgenden späten Stelle aus, die vielleicht zu den freundlichsten im ganzen Werk gehört und die daher einen ganz seltsamen Kontrast zum Rest bildet:

Zitat:

Ich, Helsingör, sah dich zum erstenmal, und von diesem Augenblick an konnte ich dich nicht vergessen. Wir sahen uns einige Sekunden lang an und du begannst zu lächeln. Ich senkte die Augen, weil ich in den deinen eine übernatürliche Flamme erkannte. Ich fragte mich, ob du dich im Schutze einer finsteren Nacht heimlich von einem Gestirn zu uns hattest herabfallen lassen; denn ich bekenne es heute, da es unnötig ist, zu heucheln, du sahst den Frischlingen der Menschheit nicht ähnlich; sondern ein funkelnder Strahlenkranz umgab die Peripherie deiner Stirn. Ich hätte gewünscht, vertrauliche Beziehungen mit dir anzuknüpfen; meine Gegenwart wagte nicht, sich der auffallenden Neuheit dieses seltsamen Adels zu nähern und beharrliches Entsetzen umschlich mich. Warum schenkte ich solchen Warnungen des Gewissens kein Gehör? Begründete Ahnungen. Da du mein Zögern bemerktest, errötetest du deinerseits und strecktest mir den Arm entgegen. Ich legte mutig meine Hand in die deine, und nach dieser Tat fühlte ich mich gestärkt; von jetzt an war ein Hauch deiner Intelligenz in mich übergegangen.


Dergleichen setzt sich fort, als Maldoror den Jüngling Mervyn auf der Straße entdeckt, ihm hinterhersteigt, seine Adresse in Erfahrung bringt und ihm schließlich einen Brief schreibt, in dem er folgendes bekennt:

Zitat:

Junger Mann, ich interessiere mich für Sie; ich will Ihr Glück machen. Sie sollen mein Gefährte sein, und wir werden lange Kreuzfahrten durch die Südseeinseln unternehmen. Mervyn, Du weißt, dass ich Dich liebe, und ich brauche es Dir nicht zu beweisen. Du wirst mir Deine Freundschaft gewähren, davon bin ich überzeugt. Wenn Du mich erst besser kennst, wirst Du das Vertrauen, das Du mir entgegenbringst, nicht bereuen. Ich werde Dich vor den Gefahren, die Deiner Unerfahrenheit drohen, bewahren. Ich werde ein Bruder für Dich sein, und an guten Ratschlägen soll es Dir nicht fehlen.


Aber dieser Brief, der ein gemeinsames Treffen vorschlägt, auf das Mervyn tatsächlich eingeht, ist nur ein gemeiner Trick des Maldoror, denn nicht um Liebe geht es ihm, er will Mervyn wehtun, und er liefert ihn schließlich in einem Sack steckend Schlachtern aus, damit sie ihn totschlagen, als sei er nur ein Hund, doch Mervyn kommt davon – der bösen Wollust des Autoren aber entgeht er nicht: Sterben muss er schließlich trotzdem.

Was ist das für ein unbefriedigendes Ende, in dem die Zuneigung zu einem Menschen einem sinnlosen Mord weichen muss? Es ist empörend wie die Todesstrafe, die in einigen rückschrittlichen Ländern immer noch gegen Homosexuelle verhängt wird: Der brutale Mord an jemandem, der einfach nur so ist, wie er eben ist, soll in diesen Ländern das Normale darstellen, wohingegen die einvernehmliche Liebe zweier Menschen als pervers betrachtet wird, allein, weil diese nicht unterschiedlichen Geschlechts sind. Die Moral steht in diesen Ländern in dieser Hinsicht auf dem Kopf. Und auch für Lautréamont ist der Mord einfacher als die Liebe – die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt.

Die spannende Frage ist am Ende meines Textes nicht, was Lautréamont geschrieben hätte, wenn er nicht verrückt gewesen wäre, sondern: Was hätte er geschrieben, wenn er 150 Jahre später geboren worden wäre? Hätte er überhaupt etwas geschrieben, hätte er einen Mervyn gefunden, dem er sich hätte anvertrauen, mit dem er hätte glücklich werden können? Vielleicht. Es ist schade für Lautréamont, dass er nicht in unserer toleranteren Zeit leben konnte, auch wenn sich immer größer werdende düstere Schatten auf sie legen, aber wer hätte uns dann einen Satz wie diesen, der den fünften Gesang des Maldoror einleitet, geschenkt?

Zitat:

Möge der Leser mir nicht zürnen, wenn meine Prosa nicht das Glück hat, ihm zu gefallen.


Veröffentlicht am 15.01.2024

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