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Das unheilankündigende Geheul der Sirenen

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Denkmal für die Himmlischen Hundert in Lwiw, Ukraine (Dezember 2023)

Einige persönliche Eindrücke von Silvester 2023 im ukrainischen Lwiw

Wir wandern an diesem anfangs trüben und auch letzten Nachmittag des Jahres 2023 auf das Hohe Schloss, den mit 413 Metern höchsten Punkt in Lwiw. Lange sind wir schon nicht mehr hier gewesen. Ganz hinauf, auf die Spitze des Berges, zum Aussichtspunkt, lässt man die Menschen derzeit nicht gehen, es ist Sperrgebiet, aber auch auf dem um sie herum führenden Wanderweg hat man immer wieder wundervolle Blicke auf die galizische Stadt im Westen der Ukraine. Durch die gespenstisch wirkenden kahlen Bäume mit ihrem mageren, schwarzen Geäst hindurch sieht man in der Ferne helle Plattenbauriegel aus der dunklen Zeit der Sowjetunion, in der Nähe die markanten Gebäude der historischen Altstadt, Teil des UNESCO-Welterbes.

Wenn der Luftalarm wieder einmal losgeht, weil die Tod und Zerstörung bringenden russischen Raketen oder Drohnen auf dem Weg in die Ukraine geschickt worden sind, möchte man nicht unbedingt hier oben auf dem Hohen Schloss sein, man möchte vielleicht gar nicht in der Ukraine sein und wünscht sich vor allem, dass Russland seinen Angriffskrieg endlich beendet, aber als die Sirenen ihr unheilankündigendes Geheul tatsächlich beginnen, befinden wir uns nun einmal weit über dem Rest der Stadt. Langsam gehen wir hinunter Richtung Altstadtkern. Keiner der Spazierenden verfällt bei dem Sirengeheul in Panik, denn der Luftalarm gehört seit bald zwei Jahren zum Alltag der hier lebenden Menschen. Das ist nur zu verständlich: Man kann sein Leben nicht dauernd unterbrechen, man muss es trotz allem auch leben – solange man kann …

Wir kommen beim im Jahr 2019 eröffneten Denkmal für die Himmlischen Hundert, die Getöteten des Euromaidans, an. Die Sirenen ertränken noch immer unseren Hörsinn, der Himmel lastet schwer und düster auf uns wie der Deckel eines bleiernen Sarkophags, obwohl es der Sonne doch gelingt, ein wenig zu uns hindurchzuscheinen. Während ich an den kunstvoll geätzten Porträts der Toten vorbeilaufe, ihre Namen und biographischen Daten zum insgesamt ich weiß nicht wievielten Mal in all den Jahren lese, schaue ich immer wieder besorgt in dem uns böse gesinnten Himmel, ob sich eine Shahed-Drohne nähert – vor der könnte man sich vielleicht noch irgendwie in Sicherheit bringen, wenn man viel Glück hat, aber bei einer einschlagenden Rakete wäre alles sehr schnell vorbei.
Jedes Geräusch, das ich durch den Sirenenlärm hindurch höre, erschreckt mich: Die Motoren alter Lastkraftwagen, das Quietschen von Reifen auf dem abgenutzten und glänzenden Kopfsteinpflaster, das Schreien von Kindern auf einem fernen Spielplatz.
Kann diese bezaubernde Stadt nicht einmal für eine Weile ruhig sein: Ruhig sein und schweigen? Ich muss doch hören, ob sich die russische Gefahr nähert!

Später sind wir in der Oper von Lwiw zur Neujahrsgala. Ja, sie findet wirklich statt – mitten im Krieg! Es wird Strauß gespielt. Heiteres Notenwerk in dieser fast durchweg traurigen Zeit. Sollte es wieder Luftalarm geben, wird die Vorstellung unterbrochen und man soll dann zu seiner Sicherheit in den Luftschutzkeller der Oper gehen.
Wir sitzen auf den uns zugewiesenen Stühlen, das Haus ist beinahe ausverkauft, die Lichter gehen aus – und noch bevor der Dirigent seinen Stab erheben kann, ist für einen kurzen Moment das warnende Geräusch der Luftalarm-App, die viele, vielleicht sogar die meisten auf ihren Telefonen installiert haben, zu hören. Ein Raunen, ein schwer enttäuschtes Seufzen geht aus hunderten Mündern gleichzeitig kommend durch den schönen Saal, aber es ist nur ein Fehlalarm, wahrscheinlich für eine der vielen anderen Regionen der Ukraine bestimmt. Das Konzert geht schließlich los. Die ukrainische Hymne wird gespielt, alle erheben sich von ihren Plätzen, viele fassen sich mit der rechten Hand an ihr Herz, man vergisst den Krieg für einige Dutzend Minuten bei Späßen, die der Dirigent später macht, beim Radetzky-Marsch und anderen feinen, leichten Kompositionen.

Eine richtige Feier in das neue Jahr entfällt, denn heute kann keine Ausnahme gemacht werden: Von 0 bis 5 Uhr herrscht Sperrstunde. Niemand darf sich dann in der Öffentlichkeit aufhalten – und das aus zwingenden Gründen: Es würde die Arbeit feindlicher Saboteure erleichtern.
Überall in der Altstadt haben sich jetzt am Abend kleine Menschengruppen um Musizierende zusammengefunden. Patriotische Lieder werden angestimmt und von der Menge mitgesungen. Schon deutlich vor Mitternacht lösen sich diese Gruppen auf, in der Regel singen sie zum Abschied die ukrainische Nationalhymne, der dann das übliche Slawa Ukrajini, Herojam Slawa usw., Verwünschungen des russischen Diktators und heute auch verfrühte Beglückwünschungen zum neuen Jahr folgen. Der Umstände wegen muss man es eben schon ein gutes Stück vor Mitternacht machen. Es gibt Schlimmeres, auf das man verzichten muss.

Auf dem leeren Vernissage-Markt in der Nähe der Oper formiert sich eine Hundertschaft Polizisten. Bald werden aus ihr kleine Gruppen aufbrechen, um die gesamte Altstadt zu kontrollieren: Hält sich jeder an die Sperrstunde, haben alle Geschäfte und Lokale geschlossen? Liegt irgendwo noch jemand herum, der zu viel Alkohol konsumiert hat und medizinische Hilfe braucht?

Nachdem wir ein letztes Mal für dieses Jahr ein wichtiges Gebäude passiert haben, das rund um die Uhr von schwerbewaffneten Spezialkräften bewacht wird, erreichen wir unser Hotel.
Pünktlich um Mitternacht stoßen wir in unserem Zimmer mit einer Flasche Artemiwske-Sekt auf den künftigen Sieg der Ukraine an, auch wenn sich der Verschluss dagegen sträubt. Es ist symbolisch: Der Sekt wurde noch in der inzwischen vollständig von Russen zerstörten Stadt Bachmut im Osten der Ukraine produziert. In ihr wird eines Tages wieder die ukrainische Fahne wehen – und Bachmut wird auch neu aufgebaut werden.

Irgendwann gehen wir schlafen, durchschlafen den nächtlichen Luftalarm und erfahren erst am Morgen, dass die feindlichen Barbaren wieder in Lwiw zugeschlagen haben, aber natürlich auch an vielen anderen Orten des Landes: Das Roman Schuchewytsch-Museum im Stadtteil Bilohorschtscha wurde vollständig zerstört, die historisch bedeutsamen Exponate jedoch hatte man vor Monaten schon vorsichtshalber ausgelagert, und auch das Dormitorium der Nationalen Agraruniversität von Lwiw in Dubljany wurde in Flammen gesetzt.
Das ist Russlands abscheulicher Krieg gegen die Ukraine.
Das ist nur ein winziger Ausschnitt aus ihm.

Das neue Jahr ist gerade einmal eine Woche alt, und diese Geschehnisse sind bereits wieder so fern, als lägen sie Jahre zurück, weil Russland immer neue Schreckensnachrichten produziert, die vieles überlagern – und trotzdem wird es einmal als geschlagener Verlierer aus diesem unmenschlich geführten Krieg gegen die Ukraine nach Hause gehen müssen. Damit das gelingt, müssen wir uns alle allabendlich fragen, ob wir während des zu Ende gehenden Tages genug für die Ukraine getan haben, wie es Wolodymyr Selenskyj erst vor ein paar Wochen gefordert hat – und auch unsere gewählten Repräsentanten im Bundestag müssen eine positive Antwort darauf haben, wenn es um die weitere tatkräftige Unterstützung der Ukraine geht:

Tun wir genug, um den russischen Faschismus aufzuhalten und zu besiegen – oder zögern und zaudern wir noch immer? Es geht nicht nur um die Ukraine, es geht um die Demokratie und Freiheit auf der ganzen Welt – und wir müssen allen Ukrainern danken, dass sie auch uns vor den russischen Horden schützen.

In diesem Sinne wünsche ich Dir, meinem Leser, mit einiger Verspätung ein Frohes Neues Jahr 2024.
Möge es einen Sieg der Ukraine und anschließend einen dauerhaften Frieden bringen.

Slawa Ukrajini!

Veröffentlicht am 07.01.2024

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