Wir wandern an diesem anfangs trüben und auch letzten Nachmittag des Jahres
2023 auf das Hohe Schloss, den mit 413 Metern höchsten Punkt in Lwiw. Lange
sind wir schon nicht mehr hier gewesen. Ganz hinauf, auf die Spitze des
Berges, zum Aussichtspunkt, lässt man die Menschen derzeit nicht gehen, es
ist Sperrgebiet, aber auch auf dem um sie herum führenden Wanderweg hat man
immer wieder wundervolle Blicke auf die galizische Stadt im Westen der
Ukraine. Durch die gespenstisch wirkenden kahlen Bäume mit ihrem mageren,
schwarzen Geäst hindurch sieht man in der Ferne helle Plattenbauriegel aus
der dunklen Zeit der Sowjetunion, in der Nähe die markanten Gebäude der
historischen Altstadt, Teil des UNESCO-Welterbes.
Wenn der Luftalarm wieder einmal losgeht, weil die Tod und Zerstörung
bringenden russischen Raketen oder Drohnen auf dem Weg in die Ukraine
geschickt worden sind, möchte man nicht unbedingt hier oben auf dem Hohen
Schloss sein, man möchte vielleicht gar nicht in der Ukraine sein und
wünscht sich vor allem, dass Russland seinen Angriffskrieg endlich beendet,
aber als die Sirenen ihr unheilankündigendes Geheul tatsächlich beginnen,
befinden wir uns nun einmal weit über dem Rest der Stadt. Langsam gehen wir
hinunter Richtung Altstadtkern. Keiner der Spazierenden verfällt bei dem
Sirengeheul in Panik, denn der Luftalarm gehört seit bald zwei Jahren zum
Alltag der hier lebenden Menschen. Das ist nur zu verständlich: Man kann
sein Leben nicht dauernd unterbrechen, man muss es trotz allem auch leben –
solange man kann …
Wir kommen beim im Jahr 2019 eröffneten Denkmal für die Himmlischen
Hundert, die Getöteten des Euromaidans, an. Die Sirenen ertränken noch
immer unseren Hörsinn, der Himmel lastet schwer und düster auf uns wie der
Deckel eines bleiernen Sarkophags, obwohl es der Sonne doch gelingt, ein
wenig zu uns hindurchzuscheinen. Während ich an den kunstvoll geätzten
Porträts der Toten vorbeilaufe, ihre Namen und biographischen Daten zum
insgesamt ich weiß nicht wievielten Mal in all den Jahren lese, schaue ich
immer wieder besorgt in dem uns böse gesinnten Himmel, ob sich eine
Shahed-Drohne nähert – vor der könnte man sich vielleicht noch irgendwie in
Sicherheit bringen, wenn man viel Glück hat, aber bei einer einschlagenden
Rakete wäre alles sehr schnell vorbei.
Jedes Geräusch, das ich durch den Sirenenlärm hindurch höre, erschreckt
mich: Die Motoren alter Lastkraftwagen, das Quietschen von Reifen auf dem
abgenutzten und glänzenden Kopfsteinpflaster, das Schreien von Kindern auf
einem fernen Spielplatz.
Kann diese bezaubernde Stadt nicht einmal für eine Weile ruhig sein: Ruhig
sein und schweigen? Ich muss doch hören, ob sich die russische Gefahr
nähert!
Später sind wir in der Oper von Lwiw zur Neujahrsgala. Ja, sie findet
wirklich statt – mitten im Krieg! Es wird Strauß gespielt. Heiteres
Notenwerk in dieser fast durchweg traurigen Zeit. Sollte es wieder
Luftalarm geben, wird die Vorstellung unterbrochen und man soll dann zu
seiner Sicherheit in den Luftschutzkeller der Oper gehen.
Wir sitzen auf den uns zugewiesenen Stühlen, das Haus ist beinahe
ausverkauft, die Lichter gehen aus – und noch bevor der Dirigent seinen
Stab erheben kann, ist für einen kurzen Moment das warnende Geräusch der
Luftalarm-App, die viele, vielleicht sogar die meisten auf ihren Telefonen
installiert haben, zu hören. Ein Raunen, ein schwer enttäuschtes Seufzen
geht aus hunderten Mündern gleichzeitig kommend durch den schönen Saal,
aber es ist nur ein Fehlalarm, wahrscheinlich für eine der vielen anderen
Regionen der Ukraine bestimmt. Das Konzert geht schließlich los. Die
ukrainische Hymne wird gespielt, alle erheben sich von ihren Plätzen, viele
fassen sich mit der rechten Hand an ihr Herz, man vergisst den Krieg für
einige Dutzend Minuten bei Späßen, die der Dirigent später macht, beim
Radetzky-Marsch und anderen feinen, leichten Kompositionen.
Eine richtige Feier in das neue Jahr entfällt, denn heute kann keine
Ausnahme gemacht werden: Von 0 bis 5 Uhr herrscht Sperrstunde. Niemand darf
sich dann in der Öffentlichkeit aufhalten – und das aus zwingenden Gründen:
Es würde die Arbeit feindlicher Saboteure erleichtern.
Überall in der Altstadt haben sich jetzt am Abend kleine Menschengruppen um
Musizierende zusammengefunden. Patriotische Lieder werden angestimmt und
von der Menge mitgesungen. Schon deutlich vor Mitternacht lösen sich diese
Gruppen auf, in der Regel singen sie zum Abschied die ukrainische
Nationalhymne, der dann das übliche Slawa Ukrajini, Herojam Slawa usw.,
Verwünschungen des russischen Diktators und heute auch verfrühte
Beglückwünschungen zum neuen Jahr folgen. Der Umstände wegen muss man es
eben schon ein gutes Stück vor Mitternacht machen. Es gibt Schlimmeres, auf
das man verzichten muss.
Auf dem leeren Vernissage-Markt in der Nähe der Oper formiert sich eine
Hundertschaft Polizisten. Bald werden aus ihr kleine Gruppen aufbrechen, um
die gesamte Altstadt zu kontrollieren: Hält sich jeder an die Sperrstunde,
haben alle Geschäfte und Lokale geschlossen? Liegt irgendwo noch jemand
herum, der zu viel Alkohol konsumiert hat und medizinische Hilfe braucht?
Nachdem wir ein letztes Mal für dieses Jahr ein wichtiges Gebäude passiert
haben, das rund um die Uhr von schwerbewaffneten Spezialkräften bewacht
wird, erreichen wir unser Hotel.
Pünktlich um Mitternacht stoßen wir in unserem Zimmer mit einer Flasche
Artemiwske-Sekt auf den künftigen Sieg der Ukraine an, auch wenn sich der
Verschluss dagegen sträubt. Es ist symbolisch: Der Sekt wurde noch in der
inzwischen vollständig von Russen zerstörten Stadt Bachmut im Osten der
Ukraine produziert. In ihr wird eines Tages wieder die ukrainische Fahne
wehen – und Bachmut wird auch neu aufgebaut werden.
Irgendwann gehen wir schlafen, durchschlafen den nächtlichen Luftalarm und
erfahren erst am Morgen, dass die feindlichen Barbaren wieder in Lwiw
zugeschlagen haben, aber natürlich auch an vielen anderen Orten des Landes:
Das Roman Schuchewytsch-Museum im Stadtteil Bilohorschtscha wurde
vollständig zerstört, die historisch bedeutsamen Exponate jedoch hatte man
vor Monaten schon vorsichtshalber ausgelagert, und auch das Dormitorium der
Nationalen Agraruniversität von Lwiw in Dubljany wurde in Flammen gesetzt.
Das ist Russlands abscheulicher Krieg gegen die Ukraine.
Das ist nur ein winziger Ausschnitt aus ihm.
Das neue Jahr ist gerade einmal eine Woche alt, und diese Geschehnisse sind
bereits wieder so fern, als lägen sie Jahre zurück, weil Russland immer
neue Schreckensnachrichten produziert, die vieles überlagern – und trotzdem
wird es einmal als geschlagener Verlierer aus diesem unmenschlich geführten
Krieg gegen die Ukraine nach Hause gehen müssen. Damit das gelingt, müssen
wir uns alle allabendlich fragen, ob wir während des zu Ende gehenden Tages
genug für die Ukraine getan haben, wie es Wolodymyr Selenskyj erst vor ein
paar Wochen gefordert hat – und auch unsere gewählten Repräsentanten im
Bundestag müssen eine positive Antwort darauf haben, wenn es um die weitere
tatkräftige Unterstützung der Ukraine geht:
Tun wir genug, um den russischen Faschismus aufzuhalten und zu besiegen – oder zögern und zaudern wir noch immer? Es geht nicht nur um die Ukraine,
es geht um die Demokratie und Freiheit auf der ganzen Welt – und wir müssen
allen Ukrainern danken, dass sie auch uns vor den russischen Horden
schützen.
In diesem Sinne wünsche ich Dir, meinem Leser, mit einiger Verspätung ein
Frohes Neues Jahr 2024.
Möge es einen Sieg der Ukraine und anschließend einen dauerhaften Frieden
bringen.
Slawa Ukrajini!