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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Symbole der Freiheit und des Todes

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Cherson ist ukrainisch (Collage – Ukraine, 2019)

Über die Verwendung und die Macht von Symbolen

Symbole sind als Bedeutungsträger verwendete Zeichen, die für mehr oder minder komplexe Vorstellungen stehen können. Für sich gesehen sind sie nicht mächtig, ihre Macht entfaltet sich allein im menschlichen Geist, der um ihre überlieferte Bedeutung weiss, also worauf sie in ihrer Einfachheit stehend zeigen. Sicherlich gibt es einige Symbole, die global ohne vorgelagertes Lernen verstanden werden können, beispielsweise die piktogrammartige Darstellung eines Wassertropfens, aber der Gebrauch vieler von ihnen ist auf bestimmte Kulturen oder sogar Gruppen beschränkt, wobei es natürlich vorkommen kann, dass dasselbe Symbol von verschiedenen Gruppen verschieden gedeutet wird.

Feststehende Bedeutung
Mich verblüfft die Wirkungsmacht der Symbole immer wieder. Natürlich kann man sich etwas naiv tuend hinstellen und sagen: «Das ist doch nur ein Zeichen» und sich dann wundern, wenn Mitmenschen darauf scharf reagieren, aber es ist eben nicht nur ein Zeichen, es sind nicht nur Linien und ein paar andere Formen, bei bekannteren Symbolen gibt es meist einen gesellschaftlichen Konsens darüber, wofür ein Symbol steht. Als Individuum kann man es gern für sich selbst definieren, aber man wird es mit dieser Privatdefinition recht schwer haben. Erst die verbale Kommunikation über die Verwendung eines Symbols mit dessen Träger oder Aussteller kann vom Konsens abweichende Motive erhellen.

M, V, Z – Buchstaben als Symbole
Auch Buchstaben können symbolhaft verwendet werden. Denken wir nur an den Film «M» – Eine Stadt sucht einen Mörder» (1931) von Fritz Lang, in dem ein mit Kreide auf einen Jackenrücken gemaltes «M» einen Mörder bezeichnet, oder die lateinischen Buchstaben «V» und «Z», mit denen die Russen im Jahr 2022 in den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zogen. Da erhielten diese bis dahin ziemlich unschuldigen lateinischen Buchstaben auf der ganzen Welt plötzlich eine ganz hässliche Bedeutung, und selbst die Wochenzeitung «Die Zeit», die gern auch ein «Z» zur Kompaktdarstellung ihrer selbst nutzt, musste sich fragen, ob sie diese Praxis fortsetzen sollte. Vielleicht hat «Die Zeit» Glück gehabt: Ihr «Z» ist bis auf seine Mitte schwarz, das für den russischen Krieg stehende «Z» ist in der Regel weiß.

Effizienz in der Darstellung
Man geht davon aus, dass sich auch die Keilschrift aus Symbolen entwickelt hat – durch das häufige Kopieren von Tontafeln hat sich offenbar eine immer effizientere Darstellungsweise durchgesetzt, dabei waren die ursprünglichen Symbole bereits Abkürzungen.
Die effiziente Darstellung von Vorstellungen, die neben Ideen auch auf Lebewesen, Gegenstände und Vorgänge zeigen können, scheint der Daseinsgrund der Symbole zu sein: Ohne viel Aufwand hefte ich mir ein Hakenkreuz, einen roten Stern, ein weißes «V» oder «Z» an meine Jacke und Du weißt sofort, was ich für einer bin, was Du von mir zu halten hast – wir brauchen deswegen gar nicht erst miteinander reden. Ganz so einfach ist es sicherlich nicht immer. Jemand kann darauf bestehen, dass er ein Symbol trägt, weil er es ästhetisch ansprechend findet oder schlichtweg Reaktionen provozieren möchte, ohne für das einstehen zu wollen, wofür das Symbol gemeinhin steht. Das funktioniert natürlich selten und kann, wie oben bereits gesagt, nur in einer eher unwahrscheinlich stattfindenden Unterhaltung aufgedeckt werden. So verwendet beispielsweise die Neofolk-Gruppe «Death In June» einen leicht abgewandelten SS-Totenkopf in ihrem Logo, besteht jedoch darauf, dass dies keine Billigung der deutschen Vernichtungslager darstelle – muss sich aber deswegen seit Jahren immer wieder erklären.

Rechtliche Ungleichbehandlung
Gerade im 20. Jahrhundert wurden Symbole entwickelt und benutzt, auf die wir in Europa, sofern wir in dessen demokratischer Mitte stehen, noch immer heftig reagieren: Das Hakenkreuz, die SS-Runen und ähnliche Zeichen der Nazis sowie der rote Stern der Kommunisten und Hammer und Sichel der Sowjets sind die prominentesten Beispiele. In der zweiten Reihe steht dann vielleicht schon die Staatsfahne der DDR mit ihrem Emblem aus Hammer, Sichel und Ährenkranz. Die Nazi-Symbole in der Öffentlichkeit zu zeigen, ist bei uns verboten, die Symbole kommunistischer Gewaltherrschaft dürfen offen gezeigt werden, und man findet sie auch heute noch leider immer wieder im Alltag. So gibt es unter anderem in einigen Filialen des REWE-Supermarktes Dosensuppen zu kaufen, auf die neben debil grinsenden Jungpionieren die Fahne der DDR gedruckt ist, ein Sportartikel-Hersteller bietet auf amazon eine Trainingsjacke mit DDR-Schriftzug an, auf der Endverbrauchermesse «Ostpro» in Berlin im Oktober 2022 wurden unweit der Memoiren von Egon Krenz kleine DDR-Fahnen («Winkelemente») zum Kauf angeboten.
Wer schützt die Opfer des Unrechtsstaates DDR vor seinen Symbolen?

Unter der Flagge der Sowjetunion
Weil es in der BRD nicht verboten ist, mit ihr in der Öffentlichkeit herumzulaufen, kann es sogar vorkommen, dass man der Flagge der Sowjetunion mitten in Berlin am Brandenburger Tor begegnet. Manche Verirrte halten die Sowjetunion noch immer für ein «fortschrittliches» Land und schämen sich nicht, sich mit ihrer Fahne zu schmücken, dabei weiss ja jeder Mensch mit ein wenig Geschichtsbewusstsein, wofür und wo diese Sowjetfahne steht, nämlich ziemlich weit oben in der Hitparade der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Sowjetunion hat Millionen Menschen physisch vernichtet, und wen sie nicht physisch vernichtet hat, dem hat sie auch so unendlich viel Leid zugefügt, das Leben zur Hölle gemacht – natürlich gibt es einige wenige einfache und moralarme Gemüter, denen das Leben in der Sowjetunion trotzdem gefallen hat.
Dieser sowjetische Staat hat versucht, jedes von ihm unabhängige Geistesleben auszurotten. Wer also mit der Fahne der Sowjetunion herumläuft, bekennt sich freimütig zu all ihren Verbrechen und sollte sich bitte nicht wundern, wenn Passanten stark angewidert darauf reagieren.

Symbole des Todes
Ähnlich ist es seit mindestens 2014 mit der Russland-Fahne: Wer es zu einer Zeit, da Russland Krieg gegen die Ukraine führt, für eine gute Idee hält, diese öffentlich zu zeigen, macht sich mit allen Verbrechen Russlands gemein und zeigt so seine menschenverachtende Gesinnung. Die russische Fahne steht für völkerrechtswidrige Angriffskriege, schlimmste Kriegsverbrechen, Unterdrückung, Massenmorde, nukleare Drohungen, Staatsterror – diese Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Für mich macht es daher kaum einen Unterschied, ob jemand mit der Hakenkreuz-, Sowjet- oder Russlandfahne herumläuft: Das steckt alles in einer ähnlich üblen Kategorie.

Symbole der Freiheit
Auch die lichte Seite der Menschheit hat ihre Symbole. Ich persönlich denke dabei dieser Tage natürlich an den ukrainischen Dreizack, den Tryzub, aus dem man in mancher Darstellung die vier Buchstaben W-O-L-JA herauslesen kann, was Freiheit heißt – und an die blau-gelbe Fahne der Ukraine, die für alle Ukrainer und jene, die sich mit ihr verbunden fühlen, steht. Auf vielen öffentlichen Gebäuden in der ganzen EU weht die Ukraine-Fahne, sie hängt von zahlreichen privaten Balkonen oder aus Fenstern. Diese Fahnen sind ein wichtiges Zeichen der Solidarität: Auch wenn wir hier nicht direkt von den russischen Mord- und Terroraktionen betroffen sind, zeigen wir damit, dass wir jeden Tag an die Ukraine denken. Mit Ukraine-Pins an der Jacke, mit blau-gelben Armbändern am Handgelenk usw. können wir den bei uns lebenden Ukrainern wortlos signalisieren, dass uns ihr Schicksal etwas angeht, dass wir auf ihrer Seite stehen – und gleichzeitig zeigen wir der Minderheit, die es tatsächlich mit dem außerhalb der Zivilisation stehenden Russland hält, dass sie glücklicherweise nur eine traurige Minderheit ist. Selbstverständlich darf unsere Unterstützung der Ukraine nicht symbolisch bleiben, wir müssen viel mehr tun, damit sie diesen Krieg gegen Russland gewinnt. Auch das Anstrahlen des Schweriner Schlosses in den blau-gelben Fahnen war übrigens ein Symbol, allerdings ein wenig glaubwürdiges. Die Gazprom-Prinzessin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), wollte sich damit anscheinend sehr billig von ihren Russland-Sünden reinwaschen. Ein sofortiger Rücktritt wäre die ehrlichere Reaktion gewesen – aber dazu gehört immerhin ein wenig Anstand, und den hat schließlich nicht jeder, der eine DDR-Sozialisation erfahren hat.

Die ukrainische Fahne mit ihren beiden hellen Farben ist ein stark leuchtendes Symbol der Freiheit: Viele Menschen geben ihr teures Leben oder ihre Gesundheit dafür, damit das Leben der (anderen) Ukrainer gesichert und repariert werden und schließlich weitergehen kann. Schon vor über 100 Jahren hieß es unter dem ukrainischen Rebellenführer Nestor Machno (1888–1934): «Freiheit oder Tod». Es ist eine Katastrophe, dass dieser Spruch wieder an Aktualität gewonnen hat – aber das liegt fast allein an Russland, das Angriffskriege noch immer für ein geeignetes Mittel der Politik hält, und ein wenig auch an der westlichen Staatengemeinschaft, die seit 2014 nicht genügend Druck auf Russland ausgeübt hat, damit es diesen wahnsinnigen Krieg gegen die Ukraine nicht intensiviert.

Um diesen Text noch zu einem hoffnungsvollen Ende zu bringen:

Was gibt es schöneres heutzutage als wenn die ukrainische Fahne in einer frisch von den russischen Faschisten zurückeroberten Stadt auf einem Gebäude gehisst wird und sogleich in ungezwungener Fröhlichkeit in der Luft flattert!

Flattere, flattere nur, Du blau-gelbe Fahne, so fröhlich und frei.

Veröffentlicht am 04.11.2022

© 2022 by Arne-Wigand Baganz

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