Aktuell
© 1999-2024 by Arne-Wigand Baganz

Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Er schmettert seine rauschenden Fanfaren

Start > Artikel > 2022

Johannes R. Bechers Grabstein (Berlin, 2009)

Die Dichtung und das Leben des Johannes R. Becher

Johannes Robert Becher (1891–1958) ist einer der vielen Dichter des 20. Jahrhunderts, die sich dem Totalitarismus hingegeben haben und deren literarisches Schaffen inzwischen wohl auch deswegen in Vergessenheit geraten ist. Bei Becher scheint mir das besonders tragisch zu sein, denn gemessen an dem, was er rein literarisch geleistet hat, gehört er zumindest nach meiner Auffassung zu den talentiertesten Dichtern seiner Epoche, aber es ist nun einmal so, dass wir nicht nur die Form genießen und dabei von allen Inhalten abstrahieren können, geschweige denn sollten.

Das Leben als Achterbahnfahrt
Bechers Leben ist eine Achterbahnfahrt, die ihm immer wieder zu entgleiten und im selbstverschuldeten Tod zu enden drohte. Durch seine Autobiographie wissen wir um seinen äußerst schwierigen Vater, einen vermutlich sexuellen Übergriff, den er als Jugendlicher im Schwimmbad erlitt, seine Flucht in die Geisteswelt: die Literatur, das Dichten, nachdem ihm das Schwimmen so schlimm verlitten wurde.
Johannes Robert Becher schickte Richard Dehmel, damals einer der populärsten deutschen Dichter, seine Werke, und dieser konnte ihm vom «Dichterberuf» nur abraten – aber das lag nicht an Bechers Gedichten, sondern an dem schrecklichen Beruf. Dehmels Warnung wirkte jedoch nicht abschreckend. Jemand ist nun einmal Dichter, oder er ist es nicht. Da gibt es keine Wahl. Man kann nur wählen, es nicht darauf anzulegen, davon leben zu wollen. Das war damals schon schwierig, heute kommt es einem Suizid gleich. Womit ich elegant zum nächsten Thema übergeleitet habe.
1910 scheiterte Bechers Doppelsuizid: Nur seine Jugendliebe, die Prostituierte Franziska Fuß, genannt Fanny, starb. Dem Gefängnis entging der junge Künstler vor allem wohl, weil sein Vater so einflussreich war …
Bechers Leben ist zu facettenreich, um es hier detailgetreu nachzuerzählen, dafür braucht es ein dickes Buch. Wir haben alles mögliche darin: Armut und Drogensucht, Abwendung vom Expressionismus, Hinwendung zu Katholizismus und Klassik, Eintritt in die KPD, Exil in Moskau, Rückkehr als Kulturfunktionär in die Sowjetische Besatzungszone, Aufstieg zum Kulturminister der jungen DDR, das Singen eines Lobliedes auf Stalin, das Dichten von Pionierliedern.

Ein kurzer Artikel wie der hier vorliegende kann auch das Werk des Dichters nur ganz oberflächlich streifen, einige Glanzpunkte herausgreifen, demjenigen einen ersten Eindruck geben, der noch nicht mit diesem vertraut ist.

Das frühe Werk
Wenn man von Bechers Werk etwas retten wollte, dachte ich mir vor vielen Jahren, dann sein frühes, im expressionistischen Stil verfasstes. Das habe ich damals auch in einer Hommage, die in meinem zweiten Gedichtband «fahnenrost» (2006) erschien, so ausgedrückt. Aber ein Mensch bleibt ja nicht stehen, er entwickelt sich, manchmal eben in eine weniger erfreuliche Richtung. Natürlich hat Becher auch nach seiner expressionistischen Phase großes geleistet. «Der Glückssucher und die sieben Lasten», der 1938 erschien und sich aus dem Exil heraus intensiv mit der deutschen Heimat befasst, die unter das Hakenkreuz “geraten” ist, dürfte ein solches Beispiel sein.
Der Dichter Heinz Czechowski (1935–2009), und darauf wurde ich erst kürzlich durch einen Zufall aufmerksam, hat es in seinem Gedicht «Der junge J.R.B.» vermutlich ähnlich gesehen: Es war der junge Johannes Robert Becher, den er für so bemerkenswert hielt, dass er ihm ein schön gemachtes Gedicht aus entlehnten Versatzstücken schrieb, heute würde man wohl Remix dazu sagen:

Zitat:

Ein schwarzer Engel seine Schritte leitet,
Ein groß Gespenst am Anfang des Jahrhunderts.
Die Haut, die hart gespannt ist, gibt den Ton
Der Trommel, die die Sätze hackt. Und sichren Schritts
Die Blindheit geht wo Paralyse gilt.
Das Göttliche, die Liebe schweiget still.


Am Anfang von Bechers Dichter-Karriere steht mit «Der Ringende» eine Kleist-Hymne, die auch im Druck erschien. Ich zitiere einige auffallend homoerotische Zeilen daraus – wenn man genauer auf Bechers Leben schaut, wird einem seine Nähe zur Männerliebe häufiger auffallen:

Zitat:

Doch da! o da! Über den geduckten
Felsklumpen schimmert weiß,
Zart sich abhebend eine hohe Gestalt, nackt, in siedendem Schweiß
Die Arme ausgestreckt der
Untergehenden Sonne nach …
Oder mir zu, oder mir zu …
Ein Mensch!!!
Ja!
Ein Mensch im flatternden Haar.
Toll über den Sand in nackter Keuschheit und Klarheit.
Oh Mensch zu Mensch! Oh Herz an Herz!
Ich trage sein Herz, sein Herz in meinem Pochen.
O nicht mehr einsam sein, nicht mehr allein gebrochen
In Schmerz und Qual??


In De Profundis nimmt uns Johannes R. Becher, so jedenfalls interpretiere ich den Anfang, mit in das düsterste Kapitel seiner eigenen Biographie, den oben geschilderten Doppelsuizid. Verzweifelt sucht er nach einer Kraft, die das “Geschehene ungeschehn” machen könnte, und ich wünsche mir beim Lesen: Warum spricht er denn nicht von seiner eigenen Verantwortung, sondern sucht Erlösung bei einem Dritten? Hat ihn dieser Erlösungswunsch letztlich in den Kommunismus getrieben, musste er sich seinetwegen aufgeben?

Zitat:

Es rauschen die Flammen. Ich leide. Ich leide.
Das schuf der Sehnsucht gefährlicher Drang.
Einst liebten wir heiß uns und innig beide,
Doch unser Leben im Blut, im Blut versank.

O ihr Engel Gottes mit den blassen Händen
Über den Sterbenden schwebend in den leuchtenden Höhen!
Wer kann das Unabwendbare wenden?
Wer macht das Geschehene ungeschehn?!


In «Kino» sehen wir Becher ganz auf der Höhe der damaligen Zeit, die Mode des Expressionismus geht er vollkommen und geschickt mit, es gibt rasende Geschwindigkeit, Fahrzeuge, Gegenständliches und Menschen gehen kaputt:

Zitat:

Das Warenhaus wird gleich zusammenstürzen.
Die Löschfahrzeuge durch die Straßen flitzen.
Es heult und zischt die große Feuerspritze.
Das Warenhaus wird gleich zusammenstürzen.

Kurt schluckte einen Apfelsinenkern.
Hofdamen ihre seidenen Schleppen raffen.
Die Schwindsucht-Mutter kann es nicht mehr schaffen.
Kurt starb an jenem Apfelsinenkern.

Volksmassen trümmern ein die Kirchenfenster
Und kippen um die sanfte Straßenbahn.
Um Dagny aber heulen wir Gespenster,
Ganz ausgefretzt von Morphium-Salvarsan.


Das ist doch genau die Katastrophen-Dichtung, deretwegen wir uns heute noch an den Namen Jakob von Hoddis erinnern. Wer es vergessen hat oder noch nicht kennt: Hier ist sein epochemachendes Werk “Weltende” von 1911.

Zitat:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.


Wir sehen: Es war ein ergiebiger Faden, den man erfolgreich noch ein ganzes Stück weiterspinnen und zu Stoffen machen konnte, bis sich auch diese Mode, die zur Masche geworden war, abgenutzt hatte.

Was nun aus all dem machen? Bei Jean-Paul Sartre heißt es in «Was ist Literatur?»:

Zitat:

Poesie heißt, wer verliert, gewinnt. Der authentische Dichter wählt, zu verlieren bis zum Tod, um zu gewinnen.


Das trifft vielleicht auch ein wenig auf Johannes Robert Becher zu. Von außen betrachtet scheint mir sein Leben nicht besonders gelungen zu sein, allerdings hat er auch in stürmischen, ja, grausigen Zeiten gelebt, das mildert mein Urteil, wenn es mir überhaupt zusteht, eines abzugeben. In seiner Dichtung hat Becher versucht, wettzumachen, was ihm im Leben gefehlt hat: Hätte er sonst eine solche Textmenge verfassen können? Er ist einer von vielen, und hier muss ich mich wiederholen, die der totalitären Versuchung im 20. Jahrhundert erlegen sind, und durch seine herausgehobene Position, sein literarisches Schaffen, hat er auch keine geringe Schuld auf sich geladen. Im Namen des Kommunismus starben und litten Millionen, deswegen dürfen wir diesen und auch jene, die ihm dienten, nicht verharmlosen.
Becher hat verloren, um in seiner Dichtung zu gewinnen. Dem Tod ist er dabei öfter begegnet … – ist Dichtung mehr als das Leben? Sicherlich nicht.

Sowohl großspurig als auch bescheiden heißt es auf Bechers Grabstein, der auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin steht, in seinen eigenen Worten:

Zitat:

Vollendung träumend,
Hab ich mich vollendet,
Wenn auch mein Werk
Nicht als vollendet endet.
Denn das war meines Werkes heilige Sendung:
Dienst an der Menschheit
Künftiger Vollendung.


Vollendet hat sich Becher durch seinen Tod sicherlich, das ist unbestritten, und sein Werk kann man durchaus «nicht vollendet» nennen. Einverstanden, wessen Werk kann man schon so nennen: Das von Johann Sebastian Bach vielleicht. Aber welchen Dienst hat Johannes Robert Becher der Menschheit erwiesen? Das, was auf seinem Grabstein steht, ist mir zu groß gedacht, ist genau diese kommunistische Megalomanie, die ihren Ursprung im kritiklosen Fortschrittsglauben und Prometheus-Mythos hat und immer mehr zerstört, als dass sie aufbaut.

Zu Bechers 125. Geburtstag im Jahre 2016 schrieb Jens-F. Dwars, Verfasser der opulenten und gut geratenen Becher-Biographie «Abgrund des Widerspruchs: Das Leben des Johannes R. Becher» (1998), im ehemaligen Zentralorgan der SED, dem “neuen deutschland”, die folgenden Sätze:

Zitat:

Weder die Akademie der Künste noch der Aufbau-Verlag haben zum 125. Geburtstag ihres Mitbegründers gedacht. Nur der Kulturbund erinnerte sich mit einer Tagung in Bad Saarow. Deren Tenor: Gut, dass Becher nicht mehr zu Tode gerühmt wird. Denn nun erst können wir den Menschen wahrnehmen und Bleibendes in seinem Werk entdecken.


Ob ein solches (Wieder-)Entdecken einmal stattfindet, wage ich zu bezweifeln – zu gering ist inzwischen der Rang der Lyrik, und wer sich doch mit ihr beschäftigt, wird sich nicht gerade diesen ehemaligen DDR-Staatsdichter vornehmen.
Im Oktober 2028 erlischt das Urheberrecht an Bechers Werken, 2041 könnte man seinen 150. Geburtstag feierlich begehen, 2058 dann seinen 100. Todestag – solche magischen Daten werden ja heute gern zum Anlass genommen, etwas Abgekühltes noch einmal aufzuwärmen. Wir werden sehen, ob da irgendein Verlag noch einmal ein kleines Geschäft, das zu machen wäre, erkennen kann …
Der Allgemeinheit jedenfalls kann ich es nicht unbedingt empfehlen, Johannes Robert Becher zu lesen, aber ich selbst gönne es mir gern als eines von vielen kleinen Privatvergnügen, das sich vielleicht so umreißen lässt:

Die Schau gediegener Kunst und in klaffende Abgründe.

Zitat:

Wer führte uns aus diesen Engbezirken,
Wer höbe auf der Fenster helle Pracht?
Wir wollen tiefer in uns Ekel würgen,
Verzweifelt angehören stumpfer Nacht.

Sie wird erblassen.
In den schwarzen Haaren
Wird sich ein Silberfaden glänzend zeigen
Und Strahlen werden sich rings um uns scharen,
Bejubelt von dem Ablauf winziger Geigen.

O Dirigent, fach an das höllische Feuer,
Treib auf die Spitze dieser Töne Schwall!
Erpeitsche uns das letzte Abenteuer!
Durchjage uns mit Blitz und Wasserfall!

O dröhne, dröhne Donner! Zacke Schwert!
Vernichte Jubel Ohr und fetze Mund! be
Und, sind wir nicht der spröden Klarheit wert,
Barmherziger Gott, o richte uns zugrund! –

Aus: Café


Veröffentlicht am 28.10.2022

© 2022 by Arne-Wigand Baganz

Note: 3 · Aufrufe: 521

Ihre Bewertung dieses Textes: