Wenn zwei Personen, die sich sonst gar nicht so fremd sind, denselben Text
lesen, kann das zu ganz unterschiedlichen Rezeptionen führen, aber auch
wenn nur eine Person denselben Text mehrfach liest, steht das Resultat der
einzelnen Durchgänge nicht zwingend vorher fest. Wenn wir etwas lesen, mag
das im günstigsten Fall unseren Horizont erweitern, aber unser Horizont
bestimmt immer auch, wie wir einen Text verstehen und bewerten.
Schauen wir uns als Beispiel einmal Iwan Turgenjews kurze Novelle “Mumu”
(1854) an. Die Hauptfigur gibt der von Geburt an taubstumme Leibeigene
Garassim ab. Zum Ausgleich für diese Behinderung verleiht ihm Turgenjew
eine fast übermenschliche körperliche Kräftigkeit, so dass der Leser ihn
vielleicht gar nicht allzu sehr bemitleiden muss. Eine verwitwete
Gutsherrin befiehlt den Garassim vom Land zu sich nach Moskau, wo er sich
dann als Hausknecht verdingt. Dieser Umzug vom Land in die russische
Hauptstadt fällt ihm nicht leicht, wie uns Turgenjew schildert, er
vergleicht Garassim sogar mit einem Tier, nämlich einem Stier:
Zitat: In die Stadt verpflanzt, begriff er nicht, was mit ihm geschah, fühlte sich fremd und unbehaglich und staunte, so wie ein junger gesunder Stier staunt, den man von der Weide nahm, wo das saftige Gras ihm bis an den Bauch stand, ihn forttrieb und in einen Viehwagen der Eisenbahn verlud, wo Dampf und Rauch und Funken um seinen Körper wehen, und den man nun fortschleppt, fährt, mit Gedröhn und Geheul, rasend schnell, Gott weiß wohin!
Es kommt hier nicht auf jedes Detail an, wer will, kann die schmale Novelle
schließlich selbst schnell nachlesen, daher sei sie nur umrisshaft
zusammengefasst: Garassim rettet irgendwann eine Hündin aus der Moskwa vor
dem Ertrinken. Er nennt sie “Mumu” und das Schicksal will es, dass sie ihm
das liebste Wesen auf der Welt wird. Allerdings gibt es Komplikationen mit
der Gutsherrin, die den Hund nicht auf ihrem Hof duldet. Der Haushofmeister
Gawrilo überbringt Garassim den Befehl der Herrin, dass Mumu getötet werden
muss. Garassim führt diesen Befehl aus, er ertränkt die Hündin in der
Moskwa, indem er ihr Ziegelsteine um den Leib bindet und sie in das Wasser
wirft. Dann zieht Garassim wieder zurück in sein Dorf, die von ihm
verlassene Gutsherrin stirbt wenig später.
Friedrich Schwarz (1897-1963), der die Novelle übersetzt hat, sieht in ihr
eine Anklage gegen die Leibeigenschaft. Als Vorbild der grausamen
Gutsherrin soll Turgenjew seine eigene Mutter gedient haben. Natürlich kann
man die Novelle auch heute noch derart historisch lesen, aber die russische
Leibeigenschaft, die in Russland formell im Jahr 1861 abgeschafft worden
ist, scheint uns schon sehr weit weg zu sein. Heute verbinden wir mit
Russland andere Bilder und Ereignisse, denken an seine Eroberungskriege,
seine Verbrechen, seinen faschistoiden Nationalismus, seinen perversen
Diktator und jene, die ihm zujubeln und unter seiner Führung plündern,
vergewaltigen, morden. Wenn wir dieser Tage lesen, dass Garassim seine
Hündin Mumu in Moskau an der Krymfurt ertränkt, erinnern wir uns
wahrscheinlich sofort an die von Russland 2014 gewaltsam besetzte Krim.
Alles ist befleckt, an allem klebt das Blut unschuldiger Lebewesen, die
Russen auf dem Gewissen haben.
Heute kann man “Mumu” als Parabel lesen, die dem Leser möglicherweise
hilft, Struktur und Wesen des russischen Elends besser zu verstehen.
Garassim ist zwar ein kräftiger Mann, aber mit anderen Menschen kann er
sich nur durch Zeichensprache verständigen. Die Gutsherrin darf über ihn
bestimmen und er denkt nicht einmal daran, sich aufzulehnen. Turgenjew
schreibt:
Zitat: Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, und so gewöhnte sich auch Garassim an die Stadt.
Das hätte man vielleicht vor fünfzehn Jahren als Banalität überlesen, weil
man die Vergangenheit verdrängt hatte und die Gegenwart noch nicht gar so
finster war, heute kann man sich kritisch fragen: Woran kann sich der
russische Mensch denn alles gewöhnen? – und weiß natürlich sofort die
erschütternde Antwort: Lügen, Gewalt, die allerschlimmsten Verbrechen – den
GULag, den Roten, den Großen und den aktuellen Bombenterror gegen die
Ukraine.
Klar ist Garassim ein wenig traurig, als er den Mordbefehl umsetzt, er leidet und hat ein zorniges Gesicht, wie uns Turgenjew wissen lässt, aber er führt ihn trotzdem aus und tötet
damit alles, was ihm liebt ist, ohne auch nur an Widerstand zu denken. Die
gute Tat, die Garassim einst beging, als er die Hündin rettete, wird somit
annihiliert. Nur mit dialektischen Zauberstücken könnte man es noch so
wenden, dass unter dem Strich vielleicht doch etwas übrig bleibt, das
zählt. Daran habe ich aber kein Interesse.
Erst nach dem Mord verlässt Garassim seine erbarmungslose Gutsherrin.
Warum? Hätte er Mumu nicht leben lassen und trotzdem vor der Herrin fliehen
können? Diese einfache, diese menschliche Lösung ist ihm nicht in den Sinn
gekommen. Befehl ist in Russland Befehl, heute wie damals: Man tötet auf
Befehl, man stirbt auf Befehl, man hört nichts und man sagt nichts – auch
auf Befehl, man ist im Prinzip taubstumm wie Garassim, und das ist an
dieser Stelle selbstverständlich nur ein moralischer Vorwurf im übertragenen Sinn.
Wenn uns die klassische russische Literatur gegenwärtig etwas lehren kann,
dann ist es die Kontinuität der russischen Misere. Wer bereits andere Texte
von mir zu dem Thema gelesen hat, weiss, dass ich mich natürlich
wiederhole, aber da beides, die russische Literatur und die Misere,
untrennbar zusammenhängt, wäre es das Beste, wenn keines von beiden
existierte. Das ist natürlich nur ein frommer Wunsch, der sich ohne
Zeitmaschine nicht verwirklichen lässt. In der realen Welt geht es darum,
weder wie die Gutsherrin in Turgenjews “Mumu” oder das ganze andere Pack
auf dem Hof zu sein, noch wie der rückgratlose Auftragsmörder Garassim zu
werden. Viel essentieller noch: In unserer realen Welt geht es für viele
ganz einfach darum, Russland zu überleben. Diesen Menschen können und
müssen wir helfen.