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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Minen legen in einer unbelebten Wüste

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Griechische Ruinen in Didyma (Türkei, 2018)

Zarte Umrisse einer realistischen Poetik

Ich beginne ohne Anfang gleich mittendrin: Das Wesentliche für das Fortbestehen des poetischen Genres ist, dass weiterhin Gedichte geschrieben und zudem gegebenenfalls publiziert werden; gelesen werden können sie dann später immer noch – wenn vielleicht auch nur von Computern. Die meckern immerhin nicht, haben allerdings auch kein fühlendes Herz, können von den Texten also nicht positiv bewegt werden. Seien wir ehrlich: Gedichte haben ohnehin keinen unmittelbaren Einfluss auf die Welt, kein Gedicht der letzten Jahrzehnte war so groß, dass es etwas am Lauf der Zeit geändert hätte, und kein neues Gedicht wird von irgendeinem Leser erwartet. Auch ohne Gedichte wird es nämlich Abend und wieder Morgen, und Abend und wieder Morgen, und Abend und wieder Morgen –––

Poesie der Freien
Natürlich gibt es vereinzelte Ausnahmen. Eine aktuelle wäre der russische Krieg gegen die Ukraine. Dort spielen Gedichte noch eine bedeutende, aber selbstredend keine entscheidende Rolle. Ein Gedicht ist nur ein kommunikatives Artefakt. Es hält keine Kugeln oder Bomben auf, aber es kann den vom Krieg Betroffenen helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten und mit anderen Menschen zu teilen, was es ihnen leichter macht, durch diese schwere Zeit zu kommen; und den ukrainischen Soldaten, die aktiv an der Front kämpfen, um die völkermörderischen russischen Horden abzuwehren, können sie Kraft geben, aus- und durchzuhalten – und schließlich zu gewinnen, denn gewinnen müssen sie, damit das Böse keinen Sieg davonträgt und weitere verheerende Schäden anrichtet.
«Unsere Poesie ist eine Waffe, die jene inspiriert, die echte Waffen halten», heißt es auf der Seite der «Poesie der Freien», die vom ukrainischen Ministerium für Kultur und Informationspolitik betrieben wird. Dort sind derzeit fast 24.000 Gedichte eingetragen. Gedichte sind also eine Waffe, aber eben keine, die direkt physisch wirkt. Dennoch wird ihnen eine große Wichtigkeit beigemessen.

Dichter in dürftiger Zeit
Wenn Hölderlin in seinem elegischen Langgedicht «Brot und Wein» (vermutlich 1800/01 fertiggestellt) also fragt: «... und wozu Dichter in dürftiger Zeit», so trifft diese Frage nicht auf die eben genannte ukrainische Ausnahme zu, denn dort hat Dichtung ja durchaus einen eingeschränkt praktischen Sinn. Hölderlin wird diese Frage aus seiner eigenen Erfahrung heraus gesprochen haben, denn ihm wird beim Schreiben bewusst gewesen sein, dass er literarische Riesen erschafft – und doch blieb ihm die Anerkennung eines Publikums zu Lebzeiten verwehrt. Warum hat Hölderlin trotzdem Gedichte geschrieben? Ich meine ganz einfach, dass er es hat tun müssen, weil es zu seiner Art zu leben dazugehörte: weil er es konnte und es ihm Freude machte, die Welt in seinen Texten im Spiegel seines Geistes erneut zu erschaffen. Das ist vielleicht die kürzestmögliche, wenn auch etwas oberflächliche und damit nicht die zufriedenstellendste Begründung. Muss man aber das Dichten überhaupt begründen, erklären, gar rechtfertigen? Auch wenn es für die meisten Menschen wie Narretei aussieht, wenn sich jemand ernsthaft dem Dichten widmet, ist die Antwort, die ich gebe, dennoch «Nein».

Ein warmer Regen
Wenn ein Autor, der nicht zu den ganz wenigen in einer kleinen Öffentlichkeit stehenden gehört, ein Gedicht schreibt und einem potentiellen Publikum hinstellt, kann man es eigentlich mit einer Mine vergleichen, die irgendwo in einer unbelebten Wüste unter reichlich Sand platziert wird. Bitte, schau nicht so verdutzt, natürlich ist in dieser Mine kein Sprengstoff, denn Dichter (Futuristen, Bolschewisten usw. einmal ausgenommen) sind bekannterweise meist friedliebende bis fragile Menschen! Sollte ein Lebewesen durch einen irrwitzigen Zufall doch einmal darauf treten, macht es vielleicht nur «Puff» und es entweicht ein übler Gestank, bei dem man sich besser die Nase zuhält, vielleicht aber setzt auch ein warmer Regen ein, der plötzlich bunte Blumen in der Wüste sprießen lässt und alles duftet süß, denn dem Zauber der Worte ist schließlich doch vieles möglich – freilich nur im Geiste.

In «Andenken» (1803) hat Hölderlin Zeilen geschrieben, die sicher zu seinen berühmtesten gehören. Da sie sich nicht abnutzen, darf ich sie erneut zitieren, mich ihnen anschließen und meinen kleinen Text damit beschließen, denn mit so wenigen Worten lässt sich kaum etwas treffenderes über Dichtung aussagen:

Zitat:

Es nehmet aber
Und giebt Gedächtniß die See,
Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.


Veröffentlicht am 22.10.2022

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