Ich beginne ohne Anfang gleich mittendrin: Das Wesentliche für das
Fortbestehen des poetischen Genres ist, dass weiterhin Gedichte geschrieben
und zudem gegebenenfalls publiziert werden; gelesen werden können sie dann
später immer noch – wenn vielleicht auch nur von Computern. Die meckern
immerhin nicht, haben allerdings auch kein fühlendes Herz, können von den
Texten also nicht positiv bewegt werden. Seien wir ehrlich: Gedichte haben
ohnehin keinen unmittelbaren Einfluss auf die Welt, kein Gedicht der
letzten Jahrzehnte war so groß, dass es etwas am Lauf der Zeit geändert
hätte, und kein neues Gedicht wird von irgendeinem Leser erwartet. Auch
ohne Gedichte wird es nämlich Abend und wieder Morgen, und Abend und wieder
Morgen, und Abend und wieder Morgen –––
Poesie der Freien
Natürlich gibt es vereinzelte Ausnahmen. Eine aktuelle wäre der russische
Krieg gegen die Ukraine. Dort spielen Gedichte noch eine bedeutende, aber
selbstredend keine entscheidende Rolle. Ein Gedicht ist nur ein
kommunikatives Artefakt. Es hält keine Kugeln oder Bomben auf, aber es kann
den vom Krieg Betroffenen helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten und mit
anderen Menschen zu teilen, was es ihnen leichter macht, durch diese
schwere Zeit zu kommen; und den ukrainischen Soldaten, die aktiv an der
Front kämpfen, um die völkermörderischen russischen Horden abzuwehren,
können sie Kraft geben, aus- und durchzuhalten – und schließlich zu
gewinnen, denn gewinnen müssen sie, damit das Böse keinen Sieg davonträgt
und weitere verheerende Schäden anrichtet.
«Unsere Poesie ist eine Waffe, die jene inspiriert, die echte Waffen
halten», heißt es auf der Seite der «Poesie der Freien», die vom ukrainischen Ministerium für Kultur und Informationspolitik betrieben wird. Dort sind derzeit fast 24.000 Gedichte eingetragen.
Gedichte sind also eine Waffe, aber eben keine, die direkt physisch wirkt.
Dennoch wird ihnen eine große Wichtigkeit beigemessen.
Dichter in dürftiger Zeit
Wenn Hölderlin in seinem elegischen Langgedicht «Brot und Wein» (vermutlich 1800/01 fertiggestellt) also fragt: «... und wozu Dichter in dürftiger Zeit», so trifft diese Frage nicht auf die eben genannte ukrainische Ausnahme
zu, denn dort hat Dichtung ja durchaus einen eingeschränkt praktischen
Sinn. Hölderlin wird diese Frage aus seiner eigenen Erfahrung heraus
gesprochen haben, denn ihm wird beim Schreiben bewusst gewesen sein, dass
er literarische Riesen erschafft – und doch blieb ihm die Anerkennung eines
Publikums zu Lebzeiten verwehrt. Warum hat Hölderlin trotzdem Gedichte
geschrieben? Ich meine ganz einfach, dass er es hat tun müssen, weil es zu
seiner Art zu leben dazugehörte: weil er es konnte und es ihm Freude
machte, die Welt in seinen Texten im Spiegel seines Geistes erneut zu
erschaffen. Das ist vielleicht die kürzestmögliche, wenn auch etwas
oberflächliche und damit nicht die zufriedenstellendste Begründung. Muss
man aber das Dichten überhaupt begründen, erklären, gar rechtfertigen? Auch
wenn es für die meisten Menschen wie Narretei aussieht, wenn sich jemand
ernsthaft dem Dichten widmet, ist die Antwort, die ich gebe, dennoch
«Nein».
Ein warmer Regen
Wenn ein Autor, der nicht zu den ganz wenigen in einer kleinen
Öffentlichkeit stehenden gehört, ein Gedicht schreibt und einem
potentiellen Publikum hinstellt, kann man es eigentlich mit einer Mine
vergleichen, die irgendwo in einer unbelebten Wüste unter reichlich Sand
platziert wird. Bitte, schau nicht so verdutzt, natürlich ist in dieser
Mine kein Sprengstoff, denn Dichter (Futuristen, Bolschewisten usw. einmal
ausgenommen) sind bekannterweise meist friedliebende bis fragile Menschen!
Sollte ein Lebewesen durch einen irrwitzigen Zufall doch einmal darauf
treten, macht es vielleicht nur «Puff» und es entweicht ein übler Gestank,
bei dem man sich besser die Nase zuhält, vielleicht aber setzt auch ein
warmer Regen ein, der plötzlich bunte Blumen in der Wüste sprießen lässt
und alles duftet süß, denn dem Zauber der Worte ist schließlich doch vieles
möglich – freilich nur im Geiste.
In «Andenken» (1803) hat Hölderlin Zeilen geschrieben, die sicher zu seinen berühmtesten
gehören. Da sie sich nicht abnutzen, darf ich sie erneut zitieren, mich
ihnen anschließen und meinen kleinen Text damit beschließen, denn mit so
wenigen Worten lässt sich kaum etwas treffenderes über Dichtung aussagen:
Zitat: Es nehmet aber
Und giebt Gedächtniß die See,
Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.