Manchmal kommt eine neue Musik wie ein nächtlicher Blitz ins Leben – und es
ist danach für einen nicht mehr dasselbe, selbst wenn der Himmel schon
wieder dunkel geworden ist und nur die kleinen Sternlein weiter funkeln,
der Mond blass hinter Wolken scheint.
Das erste Mal hatte ich diese Art von Erlebnis, als ich gerade 13 Jahre alt
geworden war und «Smells like teen spirit» von Nirvana erschien. Das war 1991 und etwas aufregend neues, eine gewaltige
Erschütterung, natürlich auch ein verdammt cooler Song. Es war etwas, das
man sich selbst nicht ausdenken kann, so etwas begegnet einem einfach
unerwartet und man «erkennt» seine Besonderheit schlagartig. Natürlich kann
sich ein solches Lied über die Jahre abnutzen – heute ist Teen Spirit für
mich beispielsweise ein sicherer Kandidat für den Skip-Knopf. Es ist
schließlich eine zwar enorm effektive aber auch ziemlich primitive
Komposition und ich ertrage sie einfach nicht mehr – höchstens in einer
toten Live-Version, in der sie Kurt Cobain durch seine Performance selbst
der Lächerlichkeit preisgibt.
Katastrophen-Ballet
Ähnlich berührt hat mich meine musikalische Bekanntschaft mit Rozz Williams
(1963–1998), der auf den ersten Alben von Christian Death als Sänger zu
hören ist. Hier ging es nicht um objektive Neuheit, denn ich entdeckte das
bereits 1984 erschienene Album «Catastrophe Ballet» weit nach seiner Zeit, etwa um das Jahr 2000. In der Kunst gibt es also
auch subjektive Neuheit: Man entdeckt etwas, was man zuvor noch nicht
gekannt hat, obwohl es schon etliche Jahre in der Welt ist, und es wird
dann trotzdem für einen sehr bedeutsam.
Das Album «Catastrophe Ballet» stelle ich mir grafisch ein wenig wie eine
Gaußsche Glocke vor: Alles läuft auf das zentrale Stück «Electra Descending» zu, in dem sogar von Glocken gesungen wird, danach zerfasert das Album ein
wenig, bis es sich im letzten Song «The Fleeing Somnambulist» gänzlich in Klang- und Gesangcollagen auflöst. Das ist vollkommen in
Ordnung, ja mehr noch: Auf mich wirkt es wie ein von vorn bis hinten
stimmiges Konzept. So und nicht anders musste es geschaffen werden!
«Catastrophe Ballet» ist noch immer eines meiner Lieblingsalben.
Bald regnet es traurige Landschaften
Schauen wir kurz auf den Text von «Electra Descending» und tun so, als
würden wir ihn nicht bereits als musikalische Performance kennen. Wir
erlesen uns düstere Bilder, die uns stoßweise dargeboten werden, ohne dass
sie recht zusammenhängen zu scheinen, und trotzdem verdichten sie sich,
wird in ihnen eine sich steigernde, absolut ergreifende Dramatik aufgebaut.
Da klappern die Fenster vor Verachtung (!) und bald wird es blaue oder
traurige Landschaften regnen, die uns in die Erstickung führen werden. Dann
purzelt sogar Stonehenge und wir werden mit Fragen bedrängt: Was ist mit
ihr? Der Lohn der Sünde. Und was ist mit ihm? Er kommt dichter. Und was ist
mit den Glocken? Brustwarzen lecken die Wolken.
Als reinen Text kann man das vorschnell abtun, denn die Genialität der
Lyrics erschließt sich nicht allein durch das Lesen, man muss sie im Lied
hören. Manchmal sind es nur wenige Worte, die einen – wie soll ich es
anders nennen? – revolutionär berühren: bald regnet es traurige
Landschaften! Und wie das «tumbles» mit einiger Verspätung in den «bells»
raffiniert widerhallt! Oder das dreifache «about», welches sich endlich auf
«cloud(s)» reimt: Brustwarzen lecken die Wolken. Ein ergreifender Wahnsinn,
den sicherlich nicht jeder nachvollziehen kann.
In diesen schrägen Zeilen, bei denen man sich sehr wohl fragen kann: Wer
schreibt denn so etwas und warum, bin ich damals regelrecht aufgegangen.
Das war meine Welt, mein Kosmos, und natürlich hat es auch auf meine
frühere Textproduktion bis etwa in das Jahr 2004 abgefärbt.
Hier nun auszugsweise der Text:
Zitat: windows ratting with contempt
peeling back a ring of dead roses
soon it will rain blue landscapes
leading us to suffocation
the walls structured high
in a circle of oiled brick
and legs of tin - Stonehenge tumbles
what about her?
the wages of sin
what about him?
he's getting closer
and what about the bells?
nipples licking the clouds
Die schrill jammernde Gitarre, die manischen Bass-Linien, der süßliche und
fragile, androgyn-manierierte Gesang von Rozz, der wüst-düstere Text –
alles zusammen macht «Electra Descending» zu einem Kunstwerk, das mich noch immer so bewegt wie vor 20 Jahren, auch
wenn meine Welt ein wenig weiter und deutlich heller als damals geworden
ist.
Das Leben von Rozz Williams ist, wenn mir diese religiöse Analogie erlaubt
ist, leider wie das des Kurt Cobain eine Art Passionsgeschichte:
Hier ist ein Künstler für uns gestorben, der sich ganz seiner Kunst, aber
zudem den Drogen hingegeben hat, vielleicht auch, damit wir leben können
und nicht so wie er sterben müssen.