Die Amsel ist in Europa die am weitesten verbreitete Drosselart, und da sie
mit ihren ungefähr 100 Gramm Körpergewicht zudem ein fein anzuschauender
und lieber Vogel ist, den viele Menschen wegen ihrer schlichten aber
äußerst eleganten Art und ihrem filigran-virtuosem Gesang in ihr Herz
geschlossen haben, ist sie selbst den Dichtern, die ja auch nur Menschen
sind, nicht unentdeckt geblieben. In zahllosen Gedichten wird sie von ihnen
besungen oder zumindest erwähnt:
«Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen» heißt es bei Georg Trakl in “Verfall”, «Nisten in den Zweigen schon die geliebten Amseln wieder?» fragt Paul Heyse in “Vorfrühling”, «Die Amsel sucht sich dürre Stecken, und auch der Buchfink baut sein Nest» weiß uns Ferdinand Freiligrath in “Aus dem Schlesischen Gebirge” zu berichten. Das sind nur einige wenige
Beispiele, wobei ich an dieser Stelle gern betonen möchte, dass die Amsel
bei Georg Trakl besonders häufig Eingang in seine Texte gefunden hat.
Ein in Schwarz gekleideter Existentialist
Ihrem Äußeren nach ist die männliche Amsel ein in Schwarz gekleideter
Existentialist. Ihren orangen Schnabel dürfen wir auf menschliche Maßstäbe
übertragen gern als roten Schal interpretieren. Da sie abends gern ihre
Liedchen ins Blaue hinein singt, ist sie mit einigen Dichtern vielleicht
sogar enger verwandt als viele von uns bisher gedacht haben.
Nach dieser Einleitung möchte ich auf meinen eigentlichen Gegenstand zu
sprechen kommen. Es geht um ein Gedicht von Ernst Jandl (1925–2000), das er
in seinen Gedichtband «selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr. gedichte.» (1983) aufgenommen hat. Ernst Jandl hatte ich in meiner Schulzeit
eigentlich schon für mich abgehakt. Wir lasen ein paar Texte im Stile der Konkreten Poesie von ihm, wir vergnügten uns mit einigen Klangbeispielen. Das war es. Dass
Jandl besonders zum Ende seines Lebens auch gegenständlich geschrieben hat,
habe ich erst vor kurzem erfahren. Nun der Text, über den ich sprechen
möchte:
Zitat: fang eine liebe amsel ein
nimm eine schere zart und fein
schneid ab der amsel beide bein
amsel darf immer fliegend sein
steigt höher auf und höher
bis ich sie nicht mehr sehe
und fast vor lust vergehe
das müßt ein wahrer vogel sein
dem niemals fiel das landen ein
Zuerst einmal fällt mir eine ausgesprochene Leichtigkeit und Einfachheit im
Ausdruck auf, die sich am Ende des Textes merklich an «Das Wandern ist des Müllers Lust» (1821) anlehnt. Konträr dazu steht der bösartig bis grausame Inhalt des
Gedichts:
Der Dichter gibt uns tatsächlich eine Anleitung, wie wir eine Amsel
verstümmeln sollen – wobei es durch das Weglassen des Personalpronomens in
den ersten fünf Zeilen doch undeutlich bleibt, ob Jandl hier nun von sich
selbst spricht oder uns tatsächlich als Leser meint. Es ist natürlich zu
hoffen, dass niemand diese Anleitung wörtlich nimmt, geschweige denn sie
umzusetzen sucht. Es wäre ein schlimmes Verbrechen gegen die wunderbare
Natur!
Ein scheußliches Gedicht
Warum hat der Jandl so ein scheußliches Gedicht geschrieben, das ja
trotzdem oder eben wegen seiner Ungeheuerlichkeit einen gewaltigen Eindruck
macht, zumindest auf mich? Ich kann nur wild spekulieren, denn ich kenne
mich weder mit Jandls Biographie aus, noch liegt mir derzeit der komplette
1983er Gedichtband vor, in dem der Text abgedruckt ist, so dass ich auch
nicht darum liegende Stücke in meine Gedankengänge einbeziehen kann.
Ein tiefer seelischer Schmerz
Jandls Amselgedicht ist für mich Ausdruck eines tiefen seelischen
Schmerzes, der sich nach außen hin noch immer durch eine aufgesetzte
Lustigkeit tarnen möchte, aber man kann durch sie hindurch bereits auf ihn
sehen. Der Dichter wählt genau diesen Stil, damit sich Form und Inhalt
regelrecht beißen und wir als Leser etwas von dem Tumult, der in ihm tobt,
nachempfinden können. Das ist künstlerisch zulässig, wenn es auch
moralisch, wenn man es wörtlich nimmt, eine Grenze überschreitet. Als gute
und schlaue Leser wissen wir selbstverständlich, dass das in dem Gedicht
vollzogene Gedankenexperiment nicht funktionieren kann, weil die Amsel ihre
Beine zum Leben braucht, denn ihre Nahrung findet sie schließlich
vorwiegend am Boden. Sie kann nicht wie eine Rakete einfach jahrelang in
die Tiefen des Alls fliegen. Das kann sie einfach nicht, denn sie ist kein
von Menschen gebautes Gerät. Ohnehin sollten wir unsere Finger gefälligst
von ihr lassen!
Das Seelenleben der Amsel
Sicherlich ist das Seelenleben einer Amsel weniger komplex als das eines
Menschen, aber eigentlich geht es ja in Jandls Gedicht gar nicht um die
Amsel an sich. Sie ist nur eine Projektionsfläche, auf welcher der Dichter
eine kontrafaktische Konstruktion errichtet, weil es ihm seine Sprache
erlaubt. Ich vermute, dass er eigentlich selber gern diese Amsel wäre, die
nicht mehr an die Erde gebunden ist und nur noch in der Welt umherfliegt,
wie es ihr gefällt:
Zitat: Das müsst ein fröhlicher Jandl sein,
dem niemals fiel das Landen ein.