Ich möchte über ein Fundstück sprechen, das ich dem ukraine-stämmigen
Wiktor Palenyj, einem Absolventen der Berkeley Universität in Kalifornien,
verdanke: Es handelt sich um das oberflächlich betrachtet unscheinbare
Gedicht “Lemberg” von Günter Eich (1907-1972), der in Lebus geboren wurde
und in Salzburg starb. Zuerst das Gedicht – und ich bitte den Leser, auch
nach diesen schlichten Zeilen noch bei mir zu bleiben:
Lemberg
1.
Stadt auf wie vielen Hügeln.
Ergrautes Gelb.
Einen Glockenton gibt es dir mit,
hörbar im Klirren
deiner Erkennungsmarke.
2.
Abhänge wie die Angst unhörbar.
Die Straßenbahn endet
in einer Steppe von Unkraut
vor abgegriffenen Türen.
Was ist das für ein Gedicht?
Meine erste Reaktion, als ich von diesem Gedicht erfuhr, war Erstaunen: Ich
hatte noch nie von dem Dichter Günter Eich gehört – und dieser mir
unbekannte deutsche Dichter hatte also einen Text über die sagenhafte Stadt
Lemberg / Lwiw im Westen der Ukraine geschrieben! Aber was war das für ein
Gedicht? Ich las es einmal, ein zweites Mal, später noch ein drittes Mal,
dann hatte ich es wohl begriffen.
Lemberg nur im Titel
Zuerst: Außer dem Titel hat das Gedicht von Günter Eich auf den ersten
Blick nichts mit der Stadt Lwiw zu tun; alles, was es schildert, könnte
irgendwo sein, wo es Hügel, gelb angestrichene Häuser, Straßenbahnen und
Unkraut gibt. Wir erfahren nichts von der Geschichte dieser Stadt, ihren
Menschen, ihrer Schönheit, ihren bewegenden Besonderheiten. Günter Eich
skizziert uns nur die Topographie des Ortes, für ihn ist Lwiw lediglich
eine Haltestation, ein Territorium – so wie heute die ganze Ukraine für den
russischen Diktator Putin bloß ein Territorium ist, das er gern ungeachtet
allen menschlichen Leids, das er dabei erzeugt, erobern würde.
Der Text als Zeitgedicht
Das Gedicht “Lemberg” von Günter Eich ist kein Gedicht, das man ohne
Kontextualisierung verstehen kann. Es strebt nicht nach dem Guten, Wahren
und Schönen, es ist nicht in einer zeitlosen Ewigkeit aufgespannt worden –
es ist ein Zeitgedicht, das wir vor dem Hintergrund seiner Entstehung
betrachten müssen. Das ist der Schlüssel für das Verstehen: Während des
Zweiten Weltkrieges hat Günter Eich eine Dienstreise in das schon oder noch
von Deutschen besetzte Lwiw gemacht, die er in einem anderen Gedicht,
nämlich in “Alle Augenblicke”, als ihm gelegen kommend bezeichnet hat.
Das Klirren der Erkennungsmarke
Den zeitlichen Bezug sehen wir im Gedicht “Lemberg” im Widerhall des
Glockentons in der Erkennungsmarke – sicherlich jener der Wehrmacht? Günter
Eich ist jemand, der, wäre die Welt eine bessere, damals nicht in Lwiw
hätte weilen können; aber er ist trotzdem da als Vertreter eines
mörderischen Regimes. Wie er die Stadt banalisiert, wie flach er sie
darstellt, ist erschreckend. Sie bedeutet ihm nichts, er hat keinerlei
Bezug zu ihr, für ihn ist Lwiw ein Irgendwo, vielleicht sogar ein
Nicht-Ort. Hören wir genau hin: Eich scheint sich über die zu vielen Hügel
der Stadt zu beklagen, die wiederum Abhänge unhörbarer Angst bilden würden.
Was ist das denn für eine Angst? In Eichs Gedicht ist sie bloßer Begriff,
wie sie im Wörterbuch steht, ohne Bezug zum Leben.
Lwiw: Zu groß für kleine Texte?
Warum beschäftigt mich das Lemberg-Gedicht von Günter Eich? Ich selbst bin
sehr häufig in dieser Stadt gewesen, wenn man von Westen kommt, ist sie
praktisch eines der Tore in die Ukraine bzw. das erste große Juwel hinter
der Grenze. Die Stadt lohnt es einem immer, wenn man sich in ihr aufhält.
Selbst unsere zaghafteren Kriegsreporter waren am Anfang der neu
intensivierten russischen Aggression gegen die Ukraine vor allem in Lwiw
unterwegs. Diese Stadt gebührend in einem kurzen Text abzubilden, scheint
mir sehr schwierig zu sein. Das 2017 erschienene Buch “Lemberg: Die vergessene Mitte Europas” von Lutz C. Kleveman hat immerhin über 300 Seiten. In meinem Anfang des
Jahres erschienen Gedichtband “Ukrajina, Ukrajinka” gibt es auch verschiedene Texte, die sich mit Lwiw beschäftigen: Einen
längeren, der aber einsieht, dass er allenfalls ein paar Ausschnitte
zeigen, ein paar Stichworte geben kann sowie kleinere Texte, die sich mit
deutlich engeren Sujets beschäftigen. Dass ich einen deutschen Vorgänger
habe, ahnte ich beim Verfassen meiner Gedichte nicht – aber wahrscheinlich
ist er nicht der einzige. Man ist nirgendwo der erste, muss es allerdings
auch gar nicht sein.
Lwiw ist und bleibt ukrainisch
Auf jeden Fall ist Lemberg / Lwiw so viel mehr, als uns Günter Eichs
Gedicht sagen kann – und es wäre auch besser, wenn es für den Dichter nie
einen Anlass gegeben hätte, es überhaupt zu schreiben. Seien wir froh, dass
diese Stadt nicht deutsch ist und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
auch nie wieder unter russischen Einfluss oder gar Okkupation geraten wird,
denn Lemberg / Lwiw ist und bleibt ukrainisch.
PS: Rein stilistisch mag ich das Gedicht von Günter Eich sogar und ich
werde bei Gelegenheit gern etwas tiefer in seine Gesammelten Werke schauen.