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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Das seltsame Lemberg des Günter Eich

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Blick vom Rathaus über die Altstadt von Lemberg / Lwiw, Ukraine (April 2012)

Das Gedicht eines Deutschen über Lemberg / Lwiw im Zweiten Weltkrieg

Ich möchte über ein Fundstück sprechen, das ich dem ukraine-stämmigen Wiktor Palenyj, einem Absolventen der Berkeley Universität in Kalifornien, verdanke: Es handelt sich um das oberflächlich betrachtet unscheinbare Gedicht “Lemberg” von Günter Eich (1907-1972), der in Lebus geboren wurde und in Salzburg starb. Zuerst das Gedicht – und ich bitte den Leser, auch nach diesen schlichten Zeilen noch bei mir zu bleiben:

Lemberg

1.

Stadt auf wie vielen Hügeln.
Ergrautes Gelb.
Einen Glockenton gibt es dir mit,
hörbar im Klirren
deiner Erkennungsmarke.

2.

Abhänge wie die Angst unhörbar.
Die Straßenbahn endet
in einer Steppe von Unkraut
vor abgegriffenen Türen.

Was ist das für ein Gedicht?
Meine erste Reaktion, als ich von diesem Gedicht erfuhr, war Erstaunen: Ich hatte noch nie von dem Dichter Günter Eich gehört – und dieser mir unbekannte deutsche Dichter hatte also einen Text über die sagenhafte Stadt Lemberg / Lwiw im Westen der Ukraine geschrieben! Aber was war das für ein Gedicht? Ich las es einmal, ein zweites Mal, später noch ein drittes Mal, dann hatte ich es wohl begriffen.

Lemberg nur im Titel
Zuerst: Außer dem Titel hat das Gedicht von Günter Eich auf den ersten Blick nichts mit der Stadt Lwiw zu tun; alles, was es schildert, könnte irgendwo sein, wo es Hügel, gelb angestrichene Häuser, Straßenbahnen und Unkraut gibt. Wir erfahren nichts von der Geschichte dieser Stadt, ihren Menschen, ihrer Schönheit, ihren bewegenden Besonderheiten. Günter Eich skizziert uns nur die Topographie des Ortes, für ihn ist Lwiw lediglich eine Haltestation, ein Territorium – so wie heute die ganze Ukraine für den russischen Diktator Putin bloß ein Territorium ist, das er gern ungeachtet allen menschlichen Leids, das er dabei erzeugt, erobern würde.

Der Text als Zeitgedicht
Das Gedicht “Lemberg” von Günter Eich ist kein Gedicht, das man ohne Kontextualisierung verstehen kann. Es strebt nicht nach dem Guten, Wahren und Schönen, es ist nicht in einer zeitlosen Ewigkeit aufgespannt worden – es ist ein Zeitgedicht, das wir vor dem Hintergrund seiner Entstehung betrachten müssen. Das ist der Schlüssel für das Verstehen: Während des Zweiten Weltkrieges hat Günter Eich eine Dienstreise in das schon oder noch von Deutschen besetzte Lwiw gemacht, die er in einem anderen Gedicht, nämlich in “Alle Augenblicke”, als ihm gelegen kommend bezeichnet hat.

Das Klirren der Erkennungsmarke
Den zeitlichen Bezug sehen wir im Gedicht “Lemberg” im Widerhall des Glockentons in der Erkennungsmarke – sicherlich jener der Wehrmacht? Günter Eich ist jemand, der, wäre die Welt eine bessere, damals nicht in Lwiw hätte weilen können; aber er ist trotzdem da als Vertreter eines mörderischen Regimes. Wie er die Stadt banalisiert, wie flach er sie darstellt, ist erschreckend. Sie bedeutet ihm nichts, er hat keinerlei Bezug zu ihr, für ihn ist Lwiw ein Irgendwo, vielleicht sogar ein Nicht-Ort. Hören wir genau hin: Eich scheint sich über die zu vielen Hügel der Stadt zu beklagen, die wiederum Abhänge unhörbarer Angst bilden würden. Was ist das denn für eine Angst? In Eichs Gedicht ist sie bloßer Begriff, wie sie im Wörterbuch steht, ohne Bezug zum Leben.

Lwiw: Zu groß für kleine Texte?
Warum beschäftigt mich das Lemberg-Gedicht von Günter Eich? Ich selbst bin sehr häufig in dieser Stadt gewesen, wenn man von Westen kommt, ist sie praktisch eines der Tore in die Ukraine bzw. das erste große Juwel hinter der Grenze. Die Stadt lohnt es einem immer, wenn man sich in ihr aufhält. Selbst unsere zaghafteren Kriegsreporter waren am Anfang der neu intensivierten russischen Aggression gegen die Ukraine vor allem in Lwiw unterwegs. Diese Stadt gebührend in einem kurzen Text abzubilden, scheint mir sehr schwierig zu sein. Das 2017 erschienene Buch “Lemberg: Die vergessene Mitte Europas” von Lutz C. Kleveman hat immerhin über 300 Seiten. In meinem Anfang des Jahres erschienen Gedichtband Ukrajina, Ukrajinka gibt es auch verschiedene Texte, die sich mit Lwiw beschäftigen: Einen längeren, der aber einsieht, dass er allenfalls ein paar Ausschnitte zeigen, ein paar Stichworte geben kann sowie kleinere Texte, die sich mit deutlich engeren Sujets beschäftigen. Dass ich einen deutschen Vorgänger habe, ahnte ich beim Verfassen meiner Gedichte nicht – aber wahrscheinlich ist er nicht der einzige. Man ist nirgendwo der erste, muss es allerdings auch gar nicht sein.

Lwiw ist und bleibt ukrainisch
Auf jeden Fall ist Lemberg / Lwiw so viel mehr, als uns Günter Eichs Gedicht sagen kann – und es wäre auch besser, wenn es für den Dichter nie einen Anlass gegeben hätte, es überhaupt zu schreiben. Seien wir froh, dass diese Stadt nicht deutsch ist und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch nie wieder unter russischen Einfluss oder gar Okkupation geraten wird, denn Lemberg / Lwiw ist und bleibt ukrainisch.

PS: Rein stilistisch mag ich das Gedicht von Günter Eich sogar und ich werde bei Gelegenheit gern etwas tiefer in seine Gesammelten Werke schauen.

Veröffentlicht am 07.08.2022

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