Vom Axel-Springer-Hochhaus in Kreuzberg kann man nordwärts nach Ost-Berlin
auf die Leipziger Straße gehen. Wendet man sich dann noch einmal dem
geographischen Osten zu und macht ein paar Schritte, erreicht man alsbald
die U-Bahn-Station Spittelmarkt, die aktuell eine Baustelle ist.
Auch Du kennst vielleicht dieses Phänomen, dass Du an einem Ort, den Du
schon oft passiert hast, auf einmal sehenden Auges entdeckst, was Du so
viele Male zuvor auch hättest entdecken können, aber etwas hat Dich davon
abgehalten, weil Du gar nicht immer wirklich dort bist, wo Du bist, sondern
in Gedanken irgendwo anders, ganz bei Dir. Du bist also an einem bekannten
Ort, der Dir plötzlich neu ist, als wärest Du das erste Mal dort. So erging
es mir mit dem brutalistischen Beton-Klotz an dem U-Bahn-Eingang
Spittelmarkt an eben der Ecke Leipziger / Axel-Springer-Straße. Anders als
viele Plattenbauten im ehemaligen Osten, ist er von außen nur geringfügig
saniert worden. Breite graue Betonflächen wechseln sich auf der Fassade mit
schwarzen Bändern, den verschatteten Balkoninnenflächen, ab. Das Gebäude
würgt sich um die Straßenecke wie ein pubertierendes Akkordeon, das sich in
einem Fitness-Studio monströse Kräfte antrainiert hat, um dann als
gewaltiger Stein zu erstarren. Das Gebäude beeindruckt, aber es ist aus der
Zeit gefallen, man hätte es längst abreißen oder mit erheiternden farbigen
Fassadenteilen bekleben können. So ist es, was es ist und immer war: Eine
ehrliche und wohlgeformte Masse Beton, errichtet in einem Unrechtsstaat.
Das Gebäude könnte überall zwischen Elbe und Wladiwostok, z.B. in der
Ukraine stehen - und das kann auch ein Kompliment sein. Nur wohnen mag man
darin natürlich nicht, schon allein wegen des Lärms der Hauptstraße, an der
es liegt.
Oben auf dem Dach hat man eine große, wetterfeste und blutrot gestrichene
Metall-Installation angebracht, die den geschwungenen Schriftzug von Coca
Cola zeigt. Ich fantasiere, vielleicht liege ich richtig - die Reklame
scheint mir aus den frühen Neunzigern zu stammen, möglicherweise ist sie
die erste Aufwertung, die dieses Gebäude erfahren hat. Morgen ist der 3.
Oktober, man feiert den 30. Jahrestag der Einheit Deutschlands. Dieser
Beton-Klotz mit der aufgesetzten Reklame ist mein persönliches Sinnbild der
Einheit Deutschlands: Hier ist ja ganz offenbar zusammengewachsen, was
zusammen gehört.
Was fühle ich? Nichts - und zugleich sehr viel.