Manch kritischer Leser nähert sich Büchern in dem Wissen, dass er von ihnen
belogen werden soll. Aber Louis-Ferdinand Céline, um dessen Buch
"Reise ans Ende der Nacht" (1932) es hier gehen wird, verspricht
ja gar nichts von heiligen dichterischen Wahrheiten, sondern stellt gleich
auf den ersten Seiten klar, dass sein Roman "eine ganz und gar fiktive
Geschichte", etwas für die Phantasie sei. Und damit liegt Céline schon
einmal dichter an der Wahrheit als so manch anderer Dichter... Die eingangs
erwähnte Kategorie kritischer Leser wird sich jedoch durch solche
Versicherungen ihre Wachsamkeit nicht mindern lassen. Ja, gut – aber
worum geht es denn nun in diesem Roman? Um die Schmutzigkeit des
menschlichen Lebens, geschildert anhand der "Reisen" des
Ferdinand Bardamu. Zuerst ist Krieg, Weltkrieg, Erster Weltkrieg. Der junge
Ferdinand – er ist um die 20 – lässt sich da reinziehen, viel
Freude hat er an diesem Schlachtfest nicht, er findet es sogar überaus
sinnlos:
Zitat: Er, unser Oberst, wusste womöglich, warum diese Leute schossen, und die Deutschen wusste es vielleicht ja auch, aber ich, nein wirklich, ich wusste es nicht. So tief ich auch in meinem Gedächtnis grub, ich hatte den Deutschen nie was getan. (S. 16)
Aber er kommt da wieder heraus, seine Reisen führen ihn in eine
französische Afrika-Kolonie, in die Vereinigten Staaten von Amerika und
wieder zurück nach Frankreich, und überall ist es mit den Menschen
dasselbe, auch wenn die äußeren Umstände differieren:
Zitat: Die Reichen brauchen nicht selber töten, um was zum Fressen zu haben. Sie lassen die Leute für sich arbeiten, wie sie sagen. Sie tun selber nichts Böses, die Reichen. Sie zahlen. Man tut alles, ihnen zu Gefallen, und alle sind hochzufrieden. [...] Weiter ist das Leben seit Anbeginn nicht gekommen. (S. 435)
Und die Armen? Die haben ihre Armen-Erbärmlichkeiten, Armen-Krankheiten,
Armen-Verbrechen, Armen-Träume und ihr kleines Armen-Glück, z.B. das nach
50 Jahren üppigsten Geizes endlich abgezahlte und schon wieder verfallende
Reihenhaus und die frequenten Freuden der Kopulation, die Céline in seinem
Buch zu schildern überaus liebt. Boshaft zynisch und derb ist er dabei
immer, so dass es gar nicht verwundert, wenn Céline zu den Einflüssen eines
Charles Bukowski gezählt wird.
Der alte Protestantenknochen aus Lübeck, Thomas Mann, hat Célines Roman als
"ein wildes Produkt" bezeichnet. Das ist er gewiss – und
diese Wildheit treibt ihn oft ihn die flachen Wasser der Trivialität, um
dann doch immer wieder und gerade rechtzeitig Wind zu bekommen. Lesen lässt
sich das alles gut, man bleibt bis zum Ende dabei, nicht nur in dem Fall,
dass man gerade an das Grippe-Bettlager gefesselt ist und sich ohnehin die
Zeit totschlagen muss. Ist nur noch die Frage offen, wie das denn wäre,
wenn die Armen plötzlich auch über materiellen Reichtum verfügten....
Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. Reinbek bei Hamburg 2003.