Wohin bewegt sich der Mensch? Strebt er einem bibel-ähnlichen Paradies
entgegen, dem er dem christlichen Mythos nach einst entsprungen sein soll,
wo er sich aber zu Tode gelangweilt und deswegen "eine wirkliche Sehnsucht nach der Hölle" (S.62) entwickelt hat? In "Gevierteilt" geht Cioran dieser Frage
nach und präsentiert dem Leser seine bitter schmeckende Antwort:
Unaufhaltsam bewegt sich der Mensch auf das Ende des geschichtlichen
Prozesses, also seinen Untergang, zu.
"Das Ende des geschichtlichen Prozesses ist von jetzt an unerbittlich,
ohne daß man deswegen sagen kann, ob es schleppend oder rasant sein wird.
Alles weist darauf hin, daß es mit der Menschheit bergab geht, trotz oder
vielmehr wegen ihrer Erfolge." (S.40)
Der geschichtliche Vorteil der archaischen Gesellschaften besteht laut
Cioran darin, dass sie sich vehement gegen Neuerungen wehrten und damit
nicht in die Versuchung kamen, sich wie die Menschen in der modernen
Zivilisation vor immer "neuen Trugbildern niederzuwerfen" (S.10). Weil ihr Tempo also ein gemächliches war, währten sie länger. Die
moderne Zivilisation vergleicht Cioran mit einem immer schneller tanzenden
Shiva, der durch diesen Tanz der Legende nach als Gegenkraft zur Welt
auftritt und diese aus dem Gleichgewicht bringt.
Völker, die ihre Talente erschöpft und die sich, so weit es in ihrer Kraft
stand, vervollkommnet haben, fallen unweigerlich in den Zustand des
Vegetierens und der übermaßigen Toleranz, der ihnen jedoch keine Ruhe
bedeuten kann, sondern nur ihren Untergang. Als Beispiel führt Cioran die
Geschichte des Römischen Imperiums, das von zivilisatorisch unterlegenen
Barbaren überrollt worden ist, an. "In Rom sollen im 3.Jahrhundert unserer Zeitrechnung von einer Million
Einwohnern nur sechzigtausend gebürtige Lateiner gewesen sein. So bald ein
Volk die geschichtliche Idee, die zu verkörpern es beauftragt war,
glücklich ausgeführt hat, hat es kein Motiv mehr, inmitten eines Chaos von
Gesichtern seine Unterschiedlichkeit zu behaupten, seine Züge zu
bewahren." (S.13). Ähnlichkeiten zur neueren europäischen bzw. Weltgeschichte wird man
unweigerlich erkennen müssen, das ist eben ihr Lauf. Die Übersättigten sind
müde und gleichgültig, neue Barbaren werden sie davonfegen.
Cioran bleibt nicht beim offensichtlichen stehen, sondern sucht weiter nach
Ursachen des Unterganges:
"Was uns zugrunde richtet, nein, was uns zugrunde gerichtet hat, ist
der Hunger nach einer Bestimmung, nach einem Schicksal; und wenn uns diese
Schwäche, dieser Schlüssel des geschichtlichen Werdens, ruiniert hat, wenn
sie uns zunichte gemacht hat, so hat sie uns gleichzeitig gerettet, indem
sie uns am Zusammenbruch Geschmack finden ließ und den Wunsch nach einem
Ereignis weckte, das alle Ereignisse überragen würde, nach einem Schrecken,
der alle Schrecken überragen würde." (S.47)
Wenn man Cioran auf die vereinfachende Form des Nihilisten herunterbrechen
möchte, wird man sich vielleicht ob seines häufigen Gebrauchs mythischer
und religiöser Bezüge wundern, aber das ist eben die Sprache, sind die
Symbole, mit denen wir uns in unserem Kulturkreis verständigen:
"Heute verdient das große Babylon nicht mehr wegen seiner
Unzüchtigkeit und seiner Ausschweifungen den Zusammenbruch, sondern wegen
seines Getöses und wegen seines Lärms, wegen des Schrillens seines
Metallschrotts und wegen der Besessenen, die davon nicht genug bekommen
können." (S.52)
Den vier Kapiteln "Die zwei Wahrheiten", "Der
Memoiren-Freund", "Nach der Geschichte" und
"Dringlichkeit des Schlimmsten" folgen zahllose Aphorismen, denen
der Titel "Ansätze zum Taumel" gegeben worden ist. Der Aphorismus
ist die höchste Ausdrucksform derjenigen Schreiber, die nichts auf die
Geschwätzigkeit geben, sondern auf engsten Raum ihre Aussagen
unterzubringen wissen. Cioran hat, wie wohl kein anderer Schriftsteller der
Neuzeit, den Aphorismus kultiviert. Unmöglich, ihn sich als Autoren eines
Werkes wie "Die Buddenbrooks" vorzustellen ...
Einige wenige, meiner Meinung nach besonders gelungene Aphorismen sollen
nun am Ende dieser Buchbesprechung, die ich nicht mit einer persönlichen
Wertung verunreinigen möchte, stehen:
"Glücklich die vor der Wissenschaft Geborenen, denen es vergönnt war,
gleich an ihrer ersten Krankheit zu sterben!" (S.68)
"Welche Schande ist doch der Tod! Plötzlich Objekt zu werden ..." (S.83)
"Meine Aufgabe ist es, die Zeit totzuschlagen und die ihre, mich
ihrerseits totzuschlagen. Man fühlt sich ausgesprochen wohl unter
Mördern." (S.103)
"Im Zoo. - Alle Tiere benehmen sich zurückhaltend, außer den Affen.
Man spürt, dass der Mensch nicht fern ist." (S.79)