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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

der weise und der juengling

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eines tages kam der weise aus seinen bergen in das tal hinab und er setzte sich in die wiese zu dem juengling, den er am meisten mochte, der ihm aber auch am meisten kummer bereitete. er sprach zu ihm:

"es ist ein schoenes wetter heute. ein schoenes wetter fuer meine bitteren wahrheiten. magst du sie hoeren?".

der juengling nickte stumm und dachte bei sich: "was sollen das schon fuer wahrheiten sein - ich sitze hier im gruenen und lasse mich von der sonne strahlen waermen. ich bin allein, ich schweige und bin mit mir selbst gluecklich - das ist die einzige wahrheit, die fuer mich in diesem moment von bedeutung ist. aber lasse ich den alten trotzdem erzaehlen, es scheint ihm ein großes beduerfnis zu sein, was ich ihm nicht abschlagen moechte. vielleicht macht es auch ihn ein wenig froh".

nachdem er nun die zustimmung hatte, fing der weise mit seiner rede an:

"ich sah dich von weitem schon, obwohl meine augen nicht mehr die besten sind. aber du bist wie ein leuchten in einer welt der dunkelheit. und trotzdem werde ich dir nun sagen, was ich sagen muss und mir lange ueberlegt habe:

da ist noch zu viel lachen in deinem gesicht und reine unbekuemmertheit in deinem herzen. deine traeume und illusionen scheinen dir wirklicher als die wirklichkeit - so machst du dich selbst zum gespoett aller menschen und hinter deinem ruecken zeigen sie mit ihren krummen fingern auf dich! aber was ist das schon? nichts!, denn es ist egal, was diese menschen treiben, nur wird dein leben so nicht mehr weitergehen koennen. es ist langsam zeit, dass dein leben gebrochen wird, dass du das gute, an das du glaubtest, von dir abstreifst, die liebe in dir vernichtest und den hass erlernst. wer unter den menschen leben will, muss kalt werden so wie sie. und er muss sich ihrer grausamkeit bemaechtigen, stark sein und die niedere kunst des alltaeglichen theaterspielens beherrschen. es sind noch viele dererlei menschliche tugenden, die zu erzaehlen der heutige tag mir nicht reichen wuerde. du hast sie fast alle sehr schwerwiegend vernachlaessigt. darum mache ich mir große sorgen".


der juengling hatte dem weisen wie in trance gelauscht. seine augen bewegten sich nicht, nur die gedanken kreisten lansgam in seinem kopf, aber das, was er da hoerte, war alles so fern, dass es ihn nicht wirklich erreichen konnte. er vernahm wohl den inhalt der botschaft, doch gingen ihm die einzelheiten verloren.

der weise hielt inne. vielleicht hatte er vorerst genug gesagt. er fragte sich, ob der juengling seine worte begriffen hatte. dann fragte er ihn.

der juengling winkte mit seiner schmaechtigen hand ab. zum ersten mal tat sich sein mund auf, um folgendes zu sagen:

"ich werde bald in die berge gehen - so wie du. dort gibt es diese bitteren wahrheiten nicht".

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