Die Verwandlung – Alternative Fassung

Durch ein neuartiges digitales Rekonstruktionsverfahren ist es kürzlich gelungen, einige vermutlich von Max Brod selbst zerstörte Kafka-Manuskripte für unsere Welt wiederzugewinnen und damit den ohnehin schon immensen Facettenreichtum des Prager Dichters ins nahezu Unermessliche zu steigern. Bei dem folgenden Text, der Teil der jüngst geretteten Kafka-Werke ist und den ich hier der Welt erstmals und voller Stolz präsentiere, handelt es sich zweifellos um eine Variante der 1912 geschriebenen und 1915 dann im Kurt Wolff-Verlag veröffentlichten Erzählung «Die Verwandlung». Anders als die allgemein bekannte hat die alternative Fassung der Verwandlung weder einen unhappy start, einen unhappy midstream noch ein unhappy end, weicht also von dem Kafka, wie wir ihn bis gerade eben noch gekannt haben, entschieden ab. Vielleicht wollte Max Brod, wenn er es denn selbst war, diese Variante genau deswegen unterdrücken? Eine Frage, welche die Literaturwissenschaft sicherlich die nächsten Jahrzehnte über beschäftigen und dazu führen wird, dass unzählige Artikel sowie Studien dazu verfasst werden, die sich nachfolgend aufeinander beziehen und immer größere Berge hypothetisch gesicherten «Wissens» anhäufen. Aber genug der Vorrede, bitte, lesen Sie selbst und bilden sich ein Urteil:

Als Gregor Samsa eines Morgens aus ruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem schillernden Schmetterling verwandelt.
Auf vier langen, staksigen Beinen, zwei weitere etwas kürzere blieben ungenutzt, stand er auf seinem von Nachtschweiß noch feuchten Kissen. Wenn er den Kopf etwas wandte, konnte er seine hübschen blau-orangenen Flügel sehen.

»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig innerhalb der vier wohlbekannten Wände. Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender –, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte einen Herren dar, der einen schwarzen Lederhut trug, welcher rings mit einer eisernen Kette geschmückt war; der Herr saß aufrecht in einer ebenfalls schwarzen, glänzenden Lederjacke. Seine Hände waren in wiederum schwarzen Handschuhen verborgen, der linke Arm verschränkte sich hinter dem rechten und in der rechten Hand steckte ein mächtiger silberner 18er Schraubenschlüssel, den der mit sich selbst ziemlich zufriedene Herr schräg nach oben zeigend dem Beschauer entgegenhob.

Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das wunderbare Wetter – man hörte von draußen liebe Vögel singen und sah bereits die ersten satten Strahlen der Morgensonne – machte ihn ganz euphorisch. Da das Fenster einen Spalt weit offen stand, dachte sich Gregor: »Wie wäre es, wenn ich, statt noch ein wenig weiterzuschlafen, die Schönheit des Augenblicks nutzte, meine Familie, meinen Beruf und alles, was mich sonst bedrückt, für immer vergäße und einfach durch den Spalt in die Freiheit verschwände?«.

Kaum hatte Gregor diese Gedanken gedacht, fühlte er sich wie in einem erfüllenden Rausch auf einem warmen Luftstrom plötzlich aus dem Fenster gesogen. Draußen taten seine blau-orangenen Flügel dann wie von selbst fröhliche Schläge und trugen ihn weiter fort, immer weiter fort, bis wir ihn aus den Augen verloren und daher nichts weiter von ihm berichten können, aber es ist gewiss, dass wir uns Gregor Samsa als überaus glücklichen Schmetterling vorstellen dürfen, der nun nach seiner eigentlich Natur lebt.