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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Der Meister

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Lange, viel zu lange hatte man auf seine Ankunft gewartet. Nun endlich war er da. Draussen, in der Wüste, hatte er sein bescheidenes Lager - ein kleines Zelt - aufgeschlagen. Wenig später schon eilten Frauen aus dem Dorf herbei, um ihm frisches Wasser und Nahrung zu bringen. Sie wollten ihn bei Kräften wissen.

Wenn man von ihm sprach, so nannte man ihn nur den Meister. Er hatte schon viele Wunder vollbracht. Dies jedenfalls erzählten sich die Menschen und daher ist es mehr als verständlich, dass das Dorf ob seiner Ankunft in einige Aufregung geriet.

Am ersten Tag jedoch geschah nichts. Der Meister würde schon ein Zeichen geben, wenn er von den Dorfbewohnern etwas erwartete. Aufgrund dieser Ungewissheit entstanden viele Gerüchte und Mutmaßungen. Warum mochte er gerade zu ihrer unbedeutenden Siedlung gekommen sein? Wie hatte er von ihr überhaupt erfahren können?

Am zweiten Tag zogen wieder einige Frauen zum Lager hinaus. Fast ängstlich stellten sie die mitgebrachten Lebensmittel in das Zelt, wagten aber nicht, den Meister anzusprechen. Dieser nickte nur, als er die Frauen sah. Besonders freundlich war er dabei nicht. Sein Gesicht hatte einen unbestimmten Ausdruck, vielleicht lag auch soetwas wie Sorge auf ihm. Die Frauen vermochten nicht, dies zu deuten. Zu kurz war der Blick in das Angesicht des Meisters. In das Dorf zurückgekehrt, fragte man die Frauen eifrig über das, was sie gesehen und erlebt hatten, aus. Schlau konnte man daraus nicht werden, und aus dieser bedrückenden Unwissenheit enstanden weitere Gerüchte.

Auch am dritten, am vierten, am fünften Tage geschah nichts. Die Dorfbewohner wurden immer unruhiger, allmählich überkam sie eine große, stärker werdende Angst. Warum gab ihnen der Meister kein Zeichen?

Als am 6. Tag nach der Ankunft die Sonne aufging, trat Xul, der Sohn des Dorfältesten, auf den Versammlungsplatz und rief die folgende Worte:

"Der Meister hat mich zu sich gerufen. Also werde ich zu ihm gehen".

Und dann marschierte er auch schon los. Der Weg war nicht sonderlich lang, so dass Xul bald am Zelt des Meisters ankam.

Der Meister saß in seinem Zelt auf dem Boden. Die Beine hielt er verschränkt, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet. Von seinen Stimmbändern kam ein monotones Summen. Er schien zu beten. Als Xul in das Zelt trat, erhob sich der Sitzende. Mit einer angenehmen, weichen Stimme sprach der Meister:

"Es ist gut, dass Du gekommen bist".

Dann nahm er Xuls rechten Arm und spannte ihn mit Hilfe von schmalen Lederriemen auf einen kleinen Holzbock. Der Meister wandte sich um und holte aus einer abgenutzten Tasche einen Hammer und einen dicken, schwarzen Nagel hervor. Mit einem großen Schritt trat er an den Holzbock heran und setzte die Nagelspitze auf die Haut von Xuls Arm. Der erste Hammerschlag trieb den Nagel zur Hälfte, der zweite zur Gänze hinein. Zufrieden lächelte der Meister, entfernte die Lederriemen und entliess Xul, damit er in das Dorf zurückkehre.

Auf dem Heimweg verspürte Xul starke Schmerzen in seinem Arm. Blut floss aus der Wunde, die der Nagelschlag in seinen Körper verursacht hatte. "Warum nicht das Herz?" fragte er sich immer wieder, während er stetig schwächer wurde. "Warum denn nicht das Herz?".

Als er das Dorf erreichte, war es bereits Mittag. Die Sonne brannte unerträglich heiss vom Himmel herunter und die Menschen hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen, um der Hitze zu entgehen. So kam es, dass sie nichts von der Rückkehr Xuls und wie er sich erschöpft auf dem Versammlungsplatz niederlegte, merkten.

Nicht einmal eine halbe Stunde später aber kam die Frau des Dorfältesten auf den Platz und sah ihren Sohn. Da war er bereits tot.

Leise sprach die alte Frau zu sich: "Da ist das Zeichen" und steckte das Dorf mit einer Fackel, die sie schon lange an einem geheimen Ort versteckte, in Brand.

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