«Und natürlich kann geschossen werden» ist der folgenschwere Halbsatz der Kommunistin Ulrike Marie Meinhof
(1934–76), den sie nach der Baader-Befreiung (14. Mai 1970) auf ein Tonband
gesprochen hat, das dann unredigiert im Juni 1970 im Spiegel veröffentlicht
worden ist, und der sich anschließt an die Behauptung, dass Polizisten
keine Menschen seien, sondern Schweine, mit denen entsprechend zu verfahren
sei.
Als die ehemalige Kolumnistin Meinhof diesen Halbsatz sprach, war von
linksradikaler Seite bereits geschossen worden – mit einer Tränengaspistole
und auch scharf. Nachträglich rechtfertigte Meinhof mit ihren Aussagen nun
diese Schüsse, und zugleich kündigte sie weitere Schüsse an und fegte
alles, was dem im Weg stehen könnte, beiseite: Rücksicht, Skrupel,
Bedenken. Ulrike Meinhof sah Erfolge vor sich, die sie und ihre Mitstreiter
mit weiteren Gewalttaten erringen wollten.
Schon vor dem Spiegel-Tonband, nämlich am 22. Mai 1970, war in dem
anarchistisch-libertären Untergrundmagazin «Agit 883» (West-Berlin) der Artikel «Die Rote Armee aufbauen» erschienen, der Meinhof (und evtl. Nebenautoren) zugeordnet wird und der
ebenfalls versucht, die Baader-Befreiung mit markigen Worten zu begründen.
Der schmale Text strotzt nur so von revolutionärer Gewalt-Lyrik: Fünfmal
wird in ihm die rhetorische Phrase «Glaubten die Schweine wirklich» wie ein einleitender Paukenschlag zu Behauptungen benutzt, dass einem ganz
schwindlig wird, sowie zwei weitere Male in leichten Variationen als «Glaubte irgendein Schwein wirklich» und «Glaubten die Schweine wirklich». Hier hat sich jemand auf rhythmischen Wortwogen reitend wie ein Dichter
des Bösen immer weiter aufgeputscht, in einen unheilvollen Rausch
gesteigert, der dann ganz in Versalien gehalten mit primitiven
kommunistischen Aufrufen endet:
Zitat: DIE KLASSENKÄMPFE ENTFALTEN!
DAS PROLETARIAT ORGANISIEREN!
MIT DEM BEWAFFNETEN WIDERSTAND BEGINNEN!
DIE ROTE ARMEE AUFBAUEN!
Puh! Niemand, der noch ganz klar im Kopf ist, kann so einen verbissenen
Unsinn von sich geben.
Die brutale Radikalisierung der RAF-Gründer war bereits 1970 für
Normaldenkende schwer nachvollziehbar, und sie ist heute keinen Deut
weniger schwer nachvollziehbar, aber sie war trotzdem irgendwie auch sehr
logisch: Diese jungen Menschen, die sich in ihrem Wahn vorgenommen hatten,
in der BRD eine «Rote Armee» aufzubauen, waren von der Idee des Kommunismus
infiziert, den sie von der Theorie zur Praxis führen wollten, und es ist
nun einfach so und damit auch eine ganz banale Gewissheit, dass
kommunistische Regime nicht ohne Gewalt begründet und am Leben erhalten
werden können. Die Gewalt und schließlich das Morden gehören immer zum
Kommunismus dazu; auch deswegen können ihn echte Humanisten nur ablehnen.
Die 1968er Bewegung, die der RAF vorausging, hatte noch nicht dazu geführt,
dass in der Bundesrepublik Deutschland der Kommunismus errichtet wurde,
aber es gab etliche radikale Linke, die danach dürsteten, trotz fehlendem
Mandat der Bevölkerung endlich Macht auszuüben – und sei es nur rein
destruktiv durch gewalttätige Aktionen, die den Staat in eine Krise stürzen
sollten. Im April 1971 «analysierte» die Terroristin Ulrike Meinhof, damals
noch auf freiem Fuß aber bereits im Untergrund lebend, nach ihrer eigenen,
irrwitzigen Logik, dass man die Frage, ob denn “revolutionäre” Gewalt
auszuüben richtig und damit schließlich gerechtfertigt ist, ziemlich platt
und erschreckend anti-humanistisch beantworten kann:
Es hängt allein von ihrer Möglichkeit ab, und diese lasse sich nur in der
Praxis gegen die bundesrepublikanischen Staatsorgane erproben. Die
revolutionäre Gewalt ist also zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur eine
theoretische Option, sondern ein nahezu auswegloser Strudel, in den man
sich jetzt absichtsvoll begeben könne und vielleicht sogar müsse, und es
würde sich dann schon zeigen, ob man den Aufgaben, die sich einem darin
stellen, auch gewachsen ist. Hier ist der genaue Wortlaut, wie ihn die
fehlgeleitete Meinhof auf ihr Tonband sprach, ebenfalls zur
Veröffentlichung im Spiegel vorgesehen:
Zitat: Die Frage, ob es richtig ist, bewaffnete, das heißt illegale Widerstandsgruppen in der Bundesrepublik und Westberlin zu organisieren, ist die Frage, ob es möglich ist. Die Antwort darauf kann nur praktisch ermittelt werden, alles andere sind Spekulationen. Einige Genossen haben sich zu dieser Praxis entschlossen. Daran wird sich zeigen, ob genug Leute, ob genug psychische und physische Energie, genug Schlauheit, genug Disziplin, genug Unzufriedenheit und genug Klassenhass aktivierbar sind aus der Konkursmasse der Studentenbewegung – als Folge der sich international und national verschärfenden Klassenkämpfe – um in der imperialistischen Bundesrepublik den Imperialismus tatsächlich angreifen zu können.
Die Geschichte der RAF, ihrer Opfer, soweit sie größere Namen trugen, und
das Schicksal ihrer Gründer ist allgemein bekannt: Sie hat sich
gewissermaßen aus dem initialen Tabubruch, Gewalt gegen Menschen und Dinge
anzuwenden, um politischen Zielen Nachdruck zu verleihen, von selbst
ergeben. Die RAF-Täter setzten einen Kreislauf der Gewalt in Gang, sie
fanden es in ihrer blinden Überhebung richtig und angemessen, darüber zu
entscheiden, wer leben durfte und wer sterben musste, weil er ihnen auf dem
Marsch in das imaginierte kommunistische Paradies im Weg stand; und so
führte Gewalt zu immer neuer Gewalt: Illegitime Gewalt der RAF gegen den
Staat und seine Vertreter, legitime Gewalt des Staates gegen die RAF.
Dieser ins Leben gerufene Gewaltkreislauf gab der Meinhof, die für den
Terrorismus ihre bürgerliche Existenz samt ihrer zwei leiblichen Kinder
aufgegeben hatte, tatsächlich auf der einen Seite in ihrer Argumentation
Recht: Es war in der BRD durchaus möglich, einen todbringenden Terrorismus
zu betreiben, am Anfang leichter, am Ende, als sich der Staat darauf
eingestellt hatte, immer schwieriger, aber er führte eben zu nichts anderem
als Leiden, das nur noch größer geworden wäre, wenn der Staat ihm nicht die
Luft abgeschnürt hätte.
In einem Interview, das im Juni 1972 erschien, hat sich der Liedermacher
Wolf Biermann, damals noch Bürger der DDR, über die RAF geäußert. Für mich
ist es schwer einzuordnen, was darin wirklich ernst gemeint und was
Sarkasmus oder gar Zynismus ist: Zynisch ist es auf jeden Fall, die
menschlichen Opfer bei der Beurteilung der RAF vollkommen außer Acht zu
lassen und nur Respekt für die Täter zu haben, die um einer Idee Willen ihr
Leben aufs Spiel setzten. Biermann versteigt sich sogar in die Behauptung,
dass die RAF ihr “neues politisches Wissen” durch ihren “praktischen Kampf”
billig erwerbe:
Zitat: [...] Sie erwarten doch sicherlich nicht von mir, dass ich mich von der Roten Armee Fraktion distanziere? Ich will nicht in den Orden linker Hoher Priester aufgenommen werden, die der Baader-Meinhof-Gruppe ihren Segen vorenthalten. Lenin hat gesagt, dass der erste Schuß erst abgefeuert werden darf, wenn die Revolution beginnt. Die Kommunisten in der Baader-Meinhof Gruppe werfen ihr Leben in die Waagschale für die Antithese: Sie wollen nämlich beweisen, dass, wenn nicht endlich der erste Schuß fällt, die Revolution verschlafen und verfressen wird. Dass Menschen ihr Leben für eine These aufs Spiel setzen, mag für die intellektuelle Öffentlichkeit komisch klingen, aber jedenfalls hat die Gruppe wichtige Antworten auf die Frage gegeben, ob und in welchem Maße die Methoden südamerikanischer Tupamaros in Westeuropa anwendbar sind. Solche Erfahrungen macht man nicht in Wortgefechten, sondern im praktischen Kampf. Billiger kann man neues politisches Wissen nicht erwerben. Linke Sekten können jetzt gemütlich bei einer Tasse Tee darüber schwätzen, dass Lenin recht hatte und gelehrte Marxisten können nun ein halbes Leben lang darüber schreiben, dass die Baader-Meinhof-Gruppe scheitern musste.
Biermann konstatiert also immerhin, dass der bewaffnete Kampf der
Baader-Meinhof-Bande, die er verharmlosend “Gruppe” nennt, aussichtslos
war, aber wie einige andere Prominente damals ist er weit davon entfernt,
ihn zu verurteilen, zum Eingang des Interviews behauptet er sogar, dass er
nichts dagegen gehabt hätte, wenn die 10.000 Mark, die er mit dem
Fontane-Preis erhielt, und die er dem Rechtsanwalt Horst Mahler überwies,
später selbst Gründungsmitglied der RAF, nicht für die Verteidigung von
Studenten vor Westberliner Gerichten verausgabt worden sondern in der Kasse
der RAF gelandet wären.
Die RAF hatte nicht nur aktive Mitglieder, sondern auch Unterstützer und
Sympathisanten, von denen Biermann offenbar einmal einer gewesen zu sein
scheint. Andere wie Jean-Paul Sartre haben sich vor den Karren der RAF
spannen lassen, und wieder andere wie Schily oder Ströbele haben als
Rechtsanwälte der RAF ihre Karriere gemacht und sich später im
Politik-Mainstream etabliert.
Zum Glück ist dieses blutige Kapitel der deutschen Geschichte vorbei: Bald
nach dem Zusammenbruch der DDR hörte das Morden auf, und am 20. April 1998,
dem 109. Führergeburtstag, erklärte die RAF symbolträchtig ihre
Selbstauflösung. Was bleibt, sind die schwer zu beantwortenden Fragen:
Warum wurden die Täter der RAF, was sie waren? Warum kannten sie keine
Zweifel? Warum wählten viele von ihnen wie ihre nationalsozialistischen
Vorfahren den direkten Weg in den Untergang? Warum war Ulrike Meinhof eine
schlechte Mutter, warum hat sie keine Freude am Leben gehabt, warum hat sie
gruselige Gewaltlyrik anstatt Vogel- und andere Naturgedichte verfasst?
Wir werden es nie erfahren – aber wir selbst können das meiste viel besser
machen als die traurigen Terroristen der RAF.