Was beim amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz nur eine seiner zahllosen
verbalen Blendgranaten ist, die wie plakative Parfümstöße im Sturm der
Epoche unwirksam zerstieben, wird in Russland Wirklichkeit: Die
Zeitenwende. Putins totaler Krieg gegen die Ukraine bedeutet nämlich auch
das Ende der russischen Kultur. Nie wieder wird man tief in die imperiale
Vergangenheit Russlands verstrickte Künstler wie Puschkin, Dostojewskij
oder Tolstoj unbefangen lesen können – anders als beispielsweise Hölderlin,
Goethe oder Schiller nach dem Zweiten Weltkrieg werden sie keine
Rehabilitation erfahren, denn sie sind weder unbefleckt noch unschuldig.
Der blutige Vorhang, der den Wesenskern der russischen Anti-Zivilisation
notdürftig verhüllt hat, ist für immer abgerissen, überdeutlich stehen die
russischen Verbrechen der Vergangenheit und Gegenwart vor uns, die
bösartige Struktur des russischen Staates, die sich aus einer
unbeschreiblichen Unmenge von Ungeheuerlichkeiten zusammensetzt, springt
uns vollkommen nackt und schauerlich in die tränennassen Augen.
Und trotz dieser trüben Tränen, die wir aufgrund unserer Zeugenschaft
riesigen Leidens vergießen, sehen wir alles klar und deutlich: Zügellose
militärische Gewalt, brutale Unterdrückung, gigantischen Größenwahnsinn,
ruchlose Rechtlosigkeit, unmäßige Unmenschlichkeit, genießerische
Grausamkeit, schädliches Sendungsbewusstsein, verabscheuungswürdige
Verlogenheit, kaltschnäuzige Korruption.
Russland ist ein bodenloser Abgrund – und sein perverser Diktator
persönlich hat mit seinen vielzähligen atavistischen Angriffskriegen die
Pforten der Hölle geöffnet, weil er nie den Wert des Lebens schätzen lernte
und nie wirklich liebte noch geliebt worden ist.
Sind das Neuigkeiten? Natürlich nicht. Russland ist zu keiner Zeit etwas
anderes gewesen. Schauen wir zurück in die Geschichte: Im letzten Jahr
seines sehr kurzen Lebens schrieb der in den Kaukasus verbannte Dichter
Michail Jurjewitsch Lermontow (1814–41) absolut klarsichtige Zeilen über
sein verderbtes russisches Heimatland, an dessen imperialen
Eroberungskriegen er selbst beteiligt war:
Zitat: Lebet wohl, ungewaschenes Russland,
Land der Sklaven, Land der Herren,
Und ihr, blaue Uniformen,
Und du, ihnen ergebenes Volk.
Vielleicht werde ich mich hinter der Mauer
des Kaukasus vor euren Paschas verstecken,
vor ihren allsehenden Augen,
vor ihren allhörenden Ohren.
Unangenehme aber wahrhaftige Worte – so unangenehm, dass in Russland
angezweifelt wurde, ob Lermontow sie wirklich niedergeschrieben habe oder
ob das Gedicht eine Fälschung sei. Eine internationale Expertenkommission
im Jahr 2017 untersuchte den Gegenstand und stellte fest, dass Lermontow
wirklich als Autor angesehen werden muss.
Was lehrt uns das: Gibt es in Russland etwa keinen Fortschritt?
Offensichtlich. Und es scheint auch keine guten Russen zu geben, nur gute
Menschen. Wer ein guter Mensch sein möchte, muss sich wie der
Schriftsteller Wiktor Jerofejew von Russland lossagen, es negieren, weil
die Menschheit besser daran wäre, wenn es dieses Land nicht mehr gäbe,
niemals gegeben hätte:
Zitat: Russland existiert nicht. Es ist ein illegales Land mit Pseudowahlen, Pseudoparlamenten, Pseudogerichten, Pseudoverwaltung und so weiter. Ich sehe dieses Land nicht als lebenden Organismus. Einige sagen, dass Russland sehr krank ist. Nun, ja, es gibt da einen Widerstreit zwischen der Intensivstation und dem Leichenschauhaus.