Schneetief Tristan hat Berlin weißgefärbt. Die Schneehöhe bleibt vorerst
unter den Erwartungen, aber es sieht gerade tatsächlich ein bißchen nach
Winter aus – so, wie er früher einmal war. Das Thermometer zeigt -7 Grad
an, hin und wieder ziehen energisch eisige Windböen über die Rummelsburger
Bucht in Lichtenberg und peitschen den Menschen in dicker Winterkleidung,
die hier ihren Sonntagsspaziergang machen, rote Flecken in die Gesichter.
Einige wagemutige verzichten auch bei dieser wenig freundlichen Witterung
nicht auf ihre Joggingroutine und ziehen stoisch-stramm laufend ihre
Runden. In den kahlen Bäumen am Ufer der Bucht hängen dutzende bunte
Origami-Figuren, die an ein dort im Sommer des vergangenen Jahres
ermordetes 15-jähriges Mädchen erinnern sollen.
Die Rummelsburger Bucht hat sich zu einem noblen Viertel entwickelt: Hier
wohnen Bessergestellte in teuren aber wenig einfallsreich gestalteten
Häusern, die man in den letzten Jahren nach und nach in die Brachen
geworfen hat. Nur der Scheitelpunkt der Bucht ist noch nicht baulich
erschlossen. Er ist allerdings seit geraumer Zeit von Bauzäunen umsäumt. Im
vorigen Sommer sah ich immer wieder Lebensmittelspenden daran hängen und
wusste nicht, warum. Ich hatte von Lebensmittelspenden an Obdachlose
gelesen, die man so in Zeiten der Pandemie überreichte, aber wo waren hier
denn Obdachlose?
In der Luft liegt der beißende Rauch alten, nassen Holzes, das verbrannt
wird. Man riecht ihn noch über hunderte Meter von der Feuerstelle entfernt.
Diese befindet sich in einem in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar
geräumten Obdachlosencamp, das etwa 100 Menschen als Wohnstatt diente. Ein
paar Security-Männer “südländischen Aussehens” mit orangen Warnwesten
sitzen in der Kälte vor einem Zelt. Sie wärmen sich hinter dem oben schon
erwähnten Bauzaun an einem Feuer, das ghetto-mäßig in einem Eisenkorb
entfacht worden ist. Als sie mich sehen, erschrecken sie kurz. Wieviele
Stunden mögen sie das Gelände schon bewachen, um sicherzustellen, dass
niemand von den teils in ein Hostel umgesiedelten, insgesamt aber doch
vertriebenen Obdachlosen zurückkehrt, selbst wenn die Temperaturen wieder
steigen? Die Security-Männer frieren gewiss. Den Mindestlohn werden sie
hoffentlich erhalten.
An der Straße zum Ostkreuz gibt es einen kleinen Eingang zum Camp, der mit
einem Verschlag aus Holzpaletten behelfsmäßig gesichert ist, dahinter noch
mehr Security-Männer mit schwarzen Bärten, davor ein paar aufgeregte
slawisch sprechende ehemalige Bewohner, teils mit Wägen zum Abtransport
ihrer Habe, einige offensichtlich angetrunken – nach Informationen des
Senats zumeist Bulgaren. Es wird wild diskutiert und auch geschimpft. Das
Camp (so der offizielle Sprachgebrauch, Lager sagt man in Deutschland
lieber nicht und Slum hört sich auch zu schlimm an ...) ist besetzt, es
wird keine Rückkehr geben. Handgeschriebene weiße Transparente (schwarzer
Edding), die am Bauzaun befestigt worden sind, erklären den ehemaligen
Bewohnern des Geländes, dass sie noch vom 7.2. bis zum 12.2. zwischen
jeweils 13 und 16 Uhr ihre Habseligkeiten abholen könnten. Die
Security-Männer als mutmaßliche Angehörige des Prekariats schützen es vor
Leuten, die nicht einmal mehr zum Prekariat gezählt werden können. Gestern
gab es eine von Mitfühlenden (d.h. von Personen aus der linksextremen
Szene) organisierte Solidaritätsveranstaltung, bei der auch ein Bagger, der
schon mit Räumarbeiten beschäftigt war, beschädigt wurde. Der Bauherr
hingegen soll schon auf dem Gelände, auf dem jetzt noch viele
schneebedeckte Zelte stehen, unterwegs gewesen sein. Ob es sich dabei nun
um ein Gerücht handelt oder nicht – vermutlich wird er jetzt bald bauen
lassen können.