"Welcher Kot, guter Gott", dieses 19. Jahrhundert! Was für ein Buch, dieses 1891 von Joris-Karl
Huysmans verfasste "Tief unten" (Là-bas). Ja, wahrhaftig ein
ungeheurer, sich stetig beschleunigender Sturz in die widerwärtigen Kloaken
der Menschheit. Es ist an der zentralen Romanfigur Durtal, ihn - wenn zum
Teil auch nur im Kopfe - zu vollziehen. Dieser in Paris lebende Durtal ist
wie sein Schöpfer Romancier und arbeitet, angeekelt von der von ihm als
nichtig empfundenen Gegenwart, an einer Biographie über den
leidenschaftlichen Kindermörder und einstigen Begleiter Jeanne d´Arcs:
Gilles de Rais. Eine intensive Geistesarbeit, ein nostalgisierender Rückzug
in das Mittelalter, fern vom Jahrmarktsgeschrei des modernen Alltags.
Huysmans lässt de Rais von Durtal als einen "Des Esseintes des 15.
Jahrhunderts" beschreiben - das ist ein augenzwinkender
auto-bibliographischer Hinweis "gegen den Strich" (frz. "À
rebours", 1884), das vom Ideengehalt betrachtet durchaus als der
Vorgänger von "Tief unten" figurieren kann, nur ist das spätere
Werk kein so mutwillig übergezogenes Experiment, das den Leser teilweise so
wie den "Helden" Des Esseintes an Überdrüsslichkeiten leiden
lässt. Durtal wiederum mag dem Belesenen als Vorläufer Antoine Roquentins,
Hauptfigur in Sartres "Der Ekel", erscheinen: Ein der
Gesellschaft entfremdeter Intellektueller, ein Kopfweltler, der weiße
Blätter mit einer geschichtlichen Abhandlung besudelt und dabei selbst nur
die papierne Ausgeburt eines Kopfweltlers ist.
Aber worin besteht nun der Sturz? Er ist die Parallelbewegung von Gilles de
Rais´ sich ins Dunkle streckenden Biographie, wie sie von Durtal als
Historiker der Chronologie folgend nachvollzogen wird, und Durtals eigener
Verstrickung in mystizistische, okkulte und letztlich satanistische Kreise
des zeitgenössischen Paris. Der Gipfel, das heisst: der tiefste Punkt des
Romans ist die Schilderung einer schwarzen Messe, die Wiedergabe einer
teuflischen Predigt, an der Durtal nach langem, unbefriedigtem Wollen
teilnehmen darf. Diesen Zugang zur Unterwelt hat er durch die
undurchschaubare Hyacinthe Chantelouve erhalten. Durtal ist mit ihr eine
katastrophale Beziehung eingegangen, welche sich aus einem rauschhaften
Briefwechsel entwickelt hat. Aber die reinen Gedanken der Briefe, ohne dass
sich die beiden Schreibenden zunächst direkt kannten, dieses idealistisch
durchglühte Feuer muss an der dumpfen, dämpfenden Realität ersticken: am
physischen Aufeinandertreffen, am Ausleben des Geschlechtstriebes. Und so
zieht Durtal das immer gleiche Resümee des misogynen Verkopften: "Es gibt nur diese wirkliche und unantastbare Liebe, diese aus ferner
Schwermut und Sehnsucht geschaffene Liebe, die taugt!"
Die widerstrebende Materie soll vom Ideal bezwungen, ja eigentlich verdeckt
werden. Das heisst immer Rückzug in irgendein Kämmerlein, in "Tief
unten" ist es zuweilen eine Wohnung im Glockenturm, in der bei
erlesenen Speisen und Getränken (eine solche Ausprägung von Materialismus
ist den zusammentreffenden Herren, darunter eben Durtal, dann doch ganz
genehm) viel und nicht nur über den Wert manuell gerührter Glockenschläge
philosophiert wird. Bei allen Diskutanten jedoch eine ausgeprägte
Resignation gegenüber dem Jetzt, und selbst die gewählten Fluchtwege - für
Durtal das Abfassen von Büchern - führen nur an ein äußerst bescheidenes
Ziel: "Wahrhaftig, wenn ich daran denke, hat die Literatur nur einen Grund
zu bestehen: den zu retten, der sie, aus Abscheu vor dem Leben,
macht!". Der Arzt Des Hermies als Vertreter der Wissenschaften ergänzt seinen
Freund hierauf abschwächend: "Und mildtätig die Not einiger, die noch die Kunst lieben, zu
lindern."
Das 19. Jahrhundert nach seiner Mitte: das Zeitalter des Fortschritts.
Emphatischer Technikglaube und explodierende Technikphantasien. Für Durtal
ist das Gerede vom Fortschritt hingegen "nur Heuchelei" und der
Mensch, trotz bis auf die Renaissance zurückgehenden Behauptungen der
sogenannten Humanisten, nicht vervollkommnungsfähig: "(...) am Ende ist die menschliche Kreatur egoistisch, mißbräuchlich,
niedrig geboren. (...) Überall der Triumph der Übeltäter und der
Mittelmäßigen, überall die Apotheose der Trottel der Politik und der
Banken!". Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass der Traum vom
"neuen" - eben dem vervollkommneten - Menschen, so bald er
ausgelebt wurde, nur zu den brutalsten Perversionen geführt hat, die immer
mit einem monströsen und doch zu durchschaubarem Gestrüpp aus Lügen von den
Tätern verdeckt werden sollten. Utopien bleiben dann doch besser eine
Papiersache.
Was bleibt dem Träger einer solchen ernüchterten Weltsicht, der es nicht
aufgeben kann, nach vermeintlich Höherem zu streben? Das Herumstreunen in
Gegenentwürfen, die sich ja doch nur aus dem Bestehenden ableiten, wie z.B.
der von Durtal vorgefundene groteske Unfug des Satanismus lediglich eine
schlecht inszenierte Umkehrung des Christentums ist. Und wenn einen das
Herumstreunen schließlich ermüdet und erschöpft hat, dann vertagt man auch
die letzten himmelgreifenden Hoffnungen - gleich den frühen Christen, die
so viele Jahre vergeblich auf die Wiederkunft ihres gekreuzigten Heilandes
warteten - und wird irgendwie positiv, gerinnt: Im eigenen Blödsinn.
Joris-Karl Hyusmans
Tief unten
(orig.: "Là-bas", 1891)
Aus dem Französischen von Gustav Gugitz
ISBN 978-3-257-21446-8