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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Der weisse Falke

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"Aller Tod will lange reifen", sprach Zus jäh in metallverbogener Stimme, "aber dann wird des hoffnungsvollen Körpers Heimat ein selig Paradies sein - ein friedlich Ort des sattsam marinierten Fleisches". So diese Worte in alle Welten sich verloren, ließ Zus von seinem Arm einen hungrigen Adler in den Himmel steigen. Getragen auf den kraftgeladenen Schwingen der Weisheit, rührte sich des hehren Vogels golden Gefieder nur schwer im abendlichen Wind und war alsbald Zus´ getrübtem Blicke hinter zierlichen, violett gefärbten Wolkenbändern entschwunden.

Zus seufzte. Noch war die Zeit nicht gekommen, dachte er sich und merkte, wie ihm während seines nutzlosen Sinnens zähe Traurigkeit durch die Adern in alle bleichen Extremitäten seiner Fleischlichkeit stieg. Es war dies eine unaufhaltbare Bedrückung, die kam von seinem lange schon kränkelndem Herzen. Wieviele Adler hatte er bereits in den Himmel gesandt, damit sie den entflohenen weissen Falken fänden? Er vermochte es nicht zu sagen. Und wann hatte er den Falken zuletzt gesehen, hatte er sich von seiner rätselhaften Anmut verzaubern lassen, hatte er versucht, sein Wesen im gedankenversunkenen Anblick zu ergründen? Es gab keine Antwort - nicht eine einzige, da war nur Leere größer als die endlose Ewigkeit ...

Die Sonne senkte sich allmählich tiefer, um sehr bald hinter den bleiernen Horizont zu tauchen. Zus stand noch lange draussen und beobachtete dieses stets gleiche Schauspiel der einfallslosen Natur, bis der Mond sein Antlitz erfror.

Manchmal noch wischte er sich kalte Tränen, die in willkürlicher Unregelmäßigkeit aus seinen Kristallaugen traten, aus dem Gesicht, oder sie fielen ungestört zu Boden, wo schwarze Rosen aus der Erde hervorbrachen und ihre schicksalsschweren Blütenköpfe trübsinnig herniederstreckten.

Morgen würde Zus wieder in die Wüste ziehen, würde er den nächsten Adler entsenden, würde er sich vergeblich nach dem Auffinden des weissen Falken sehnen.

Diese Sehnsucht, wenigstens, war ihm geblieben.

© 2002 by Arne-Wigand Baganz

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