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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Gasttexte > Hemmer, Jan

Der dunkle Acker

Ich schließe meine Augen, und hinter den Lidern arbeiten meine geistigen Augen. Ich schlafe und ich arbeite. Ich fühle mich wohl. Jetzt fühle ich mich wieder nicht wohl. Draußen knattern Maschinen, auf denen die männliche Gattung unserer Rasse die weibliche Gattung transportiert. Zwischendurch ändert der Lärm seinen Rhythmus, zwischen be- oder entladen. Ich fühle mich wieder wohl, meine geistigen Augen arbeiten. Dann beginnt der Lärm wieder, ich fühle mich nicht wohl. Ich muss daran denken, dass diese Maschinen bestimmt nassen Dreck aufwirbeln und selbst nass-dreckig werden, zusammen mit den Passagieren. Es wird dunkler hinter meinen Augenlidern. Die beiden Sonnen gehen mit einem Erdbeben unter, über dem dunklen Acker - mein Wecksignal. Das Licht wird der Umgebung genommen, die Schatten fliehen mit. Sie geben Dunkelheit, die lebensnotwendig ist. Der Mond wird sichtbar und gibt den heimischen Pflanzen ihr Licht. Zu viel Licht ist nicht gut, aber es macht einen sehend. Es ist ein Wechselspiel zwischen Sonnendunkelheit und Mondlicht. Keine Dusche, nur Dreck am Körper. Dunkle Insekten kriechen von mir. Sie haben es gut, bei ihnen werden Faktoren der Umgebungskräfte einfach sofort in Wirkungen umgesetzt, ohne dass sie groß nachdenken müssen. Natürlich weiß ich das nicht wirklich, aber diese Möglichkeits-Diskrepanz stimuliert meine Depression, ich fühle mich wieder wohl.
Ich streife den nassen Dreck von mir und mache mich dadurch noch nass-dreckiger. Der dunkle Acker ist nur eines der Verbindungsnaturelemente zwischen den Ballungszentren, die sich gegenseitig auffressen. In den Städten, die wie grosse Dörfer sind, leben Menschen, die mal Kinder waren und in Schulen verschiedene Schimpfwörter für ihre Geschlechtsteile erlernten. Es sind immer mehr, als die, die sie zeugen. Aus dem gezeugten ernten wir wieder das Zeugende. Manche kommen zu uns und bearbeiten den dunklen Acker. Hier wird gesät, was man erntet. Hier wird zu Markt getragen, was sich verkaufen lässt, aber von dem man nicht leben kann. Ich habe noch keinen dieser Märkte gesehen, aber die Arbeiter mit ihren Schubkarren, am Horizont verschwindend. Sie kommen nicht wieder aber hinterlassen Arbeitsplätze, alles ist gesichert. Allerdings ist schon wieder mehr Saat da, als Ernte, oder mehr Ernte als Saat. Wir haben nicht so viele Arbeitsplätze, ausser wir verkaufen mehr auf dem Markt. Jetzt ist es so weit, die Bunkertüren werden mit einem Quietschen, gleich dem Geschrei von Kindergartenkindern, geöffnet. Soll ich mir etwa Gedanken machen, um das, was ich sehe? Ich sehe es doch jeden dunklen Tag. Die Nutzpflanzen gehen zur Arbeit, das Unkraut auch. Zwischen dem Gewächs liegt Müll. Den muss man wegmachen, hab ich in einer Zeitung gelesen, die zwischen dem Müll lag. Ich kann nicht richtig atmen - mit dieser Gasmaske. Ich kann nicht richtig laufen - in diesem schwarzen Ganzkörperanzug. Aber ich schreite trotzdem voran, schaue auf die Reihen der Symmetrienatur. Gegen alle Widerstände - mit allen Widerständen. Die Gewächse, sie gleichen Salatköpfen. Auf jedem Blatt ist ein "Made in China" eingraviert. Halt, ich kann jetzt nicht weiterschreiben. Was kommt da im Fernsehen? Ich kann gut werden? Wie? Ach dadurch? Gut! Parallel dazu bekomme ich Hunger, aber Essen gibt es erst morgen wieder, wenn die Sonnen aufgehen. Über was dachte ich gerade nach? Ein unsichtbarer Arbeiter rempelt mich an. Ich bemerke seine Anwesenheit aufgrund seiner Bewegung, die nun aufgehört hat. Erstarrt verharrt er in seiner Position, schauend. Ich entferne mich, woraufhin er wieder seiner Tätigkeit nachgeht. Mit der Hacke schlägt er auf den steinharten Untergrund ein, auf dem Weg zu den Blutadern, welche die Umgebung mit Vitaminen und Mineralien versorgt. Von Fern und Nah kommen die Arbeiter, mit Hacken und anderem Gerät angeschlurft. Wenn die Sonnen wieder aufgehen, werde ich im Blut baden können, werde Opfer reißen und mit Werkzeugen die komplizierte Nahrungsaufnahme des Fleisches durchführen, so, wie es mir meine Eltern beigebracht haben. Sie haben es auch erlernt, von denen, die es auch erlernten - weiter bin ich noch nicht. Aber nun ist erst einmal Nacht. Ich streife über den dunklen Acker, meine Gasmaske macht es mir unmöglich zu riechen - was nicht weiter schlimm ist, auf das Atmen kommt es an. Es ist zwar schlimm, dass ich nicht mehr riechen kann, aber zum Glück kann ich nicht mehr riechen. Nicht weit entfernt ist eine kleine Holzbarracke. Die Scheiben werden von unregelmäßigem Flackern erhellt. Ich war noch nie drin, und werde es auch jetzt nicht tun. Ich denke daran, wie es wäre, wieder die Augen zu schließen und mit den geistigen Augen zu arbeiten. Die Barracke erinnert mich an früher, als ich das erste Mal hier war. Aufgrund der Position meiner Augen und meiner spezifischen Gesichts-Asymmetrie verliebte sich jemand in mich. Sie war die Tochter von einem, der eine Tochter hatte, sie hieß "Tochter Zwei". Wir waren eine kurze Zeit zusammen, wir wollten einen Embryo zeugen, einen ganz kleinen. Soll ich mir Gedanken machen, um das, was zurückliegt? Soll ich es weiter beschreiben? Nein, ich beschreibe, was ich denke, in der Hoffnung, dass jemand dies liest. Ich mache Gedankensprünge, Querverweise, um mich abzulenken, aber auch um mir selbst zu beweisen, dass niemand mich beobachtet. Ich trage keine Verantwortung, daher diese ganzen Gedanken. Und wenn dies dann das Ergebnis ist, dass jemand dies liest, dann ist das Ergebnis „Eins“. Und nach eins folgt unweigerlich zwei. Was ist „Zwei“? Es ist ein Ergebnis aus einer Rechnung. Aber was ist „Zwei“ an sich? In den Schulen sollte man mit den Ergebnissen anfangen. Und dann? Ich würde fragen: Was ist „Rechenweg“? Es ist schon in Ordnung, so wie es ist, denn so wissen wir, wie gesät und geerntet wird. Ich werde wieder abgelenkt durch die Umgebung. Beobachtet mich jemand? Aus Versehen bin ich in eines dieser Salatkopfgewächse getreten – oh, ein Höhepunkt, der Knaller des Tages! Da liegt eine Machete, ich hebe sie auf, ich beschreibe wie ein Roboter. Ich schreibe nicht alles auf, während ich es tue, was ich hier beschreibe. Ich kann mich nicht erinnern, dies alles hier geschrieben zu haben. Und jetzt in diesem Moment, also in der Vergangenheit, in den Augen des Lesers, bin ich mir ebenfalls nicht klar darüber, wieso hier steht, was ich tue. Ich habe es nicht geschrieben, während ich es tat. Danach ebenfalls nicht. Und wenn schon! Wenn es danach geschehen wäre, wäre es dann noch das Getane? Ich bin so schlau, ich könnte a-sexuell werden. Es wirkt alles verstörend, ich könnte erklären wie es dazu kam, aber wieso erklären, wenn es schon so ist. Dann müsste ich es beweisen, mir selbst, der ein Teil des Ganzen ist. Ist ein Teil des Ganzen der ganze Teil, oder wird er erst durch die anderen Teile des Ganzen? Warum stelle ich mir solche Fragen? Sind diese beiden Fragen gleich oder hoffe ich auf Gott? In der Bibel ist die Rede von einem Mann, der die Strasse überquerte. Und als er auf der anderen Seite ankam, dankte er Gott dafür, dass er drüben war - ein thermodynamisches Wunder. Die Dunkelheit, hier auf dem dunklen Acker, sie beleuchtet mein Inneres. Langsam bewege ich mich vorwärts, ich höre schon gar keine Arbeiter mehr, aber sie werden kommen. Wenn es keine Arbeit mehr gibt, machen sie welche. Wenn man nichts mehr sehen kann, dann ist man man selbst. Wenn wir uns selbst erkennen würden, würden wir uns dann selbst erkennen? Wie würde denn das gehen? Woher wüssten wir, dass wir uns selbst erkennen? Ich mache mir diese Gedanken, wie jemand, der in einem kahlen Betonklotz eingesperrt ist und bei der Betrachtung der Risse in den Wänden, an Flüsse oder Gebirgsketten denkt. Aber Spass beiseite, was ist der Beweis, der nicht beweisbar ist, da man nicht überprüfen kann, da die Situation ihre Natur ändern muss, da das Ergebnis manipuliert werden muss, ohne Umwandlung, einfach aus der Gegebenheit heraus. Alles Vorstellbare beruht auf Sicherheit, gebildet aus gespeicherten Erfahrungen, aus Stimulationen und deren Ereignis-Verknüpfungen - Resultat temporärer Begebenheiten. Was also ist "Was", fragt man sich und was ist "fragen", "man" und "sich"? Und was ist das? Antworten sind erfunden und Variablen aus Bekanntem, sie entstehen aus der biochemischen Kloake, die unsere Priester "nach göttlichem..." nennen. Auch das sind nur Prozesse, ich unterscheide nicht zwischen Priester und dem hier geschriebenen. Es gibt keine unbekannten Antworten, alles hat mein ekelhaftes Gehirn seit Beginn gelernt, als ich noch dieses Lebewesen aus dem Kanal des Lebewesens mit den beiden vorderen Augen war, anders als der Vogel, mit seinen seitlich angelegten Augen. Sieh an, hier liegt ein solches Lebewesen, mitten in einer Kuhle. Und dieser Text, was ist er? Wüsste man was es ist, wüsste man es dann? Am Ende ist alles Niedergeschriebene nur eine Modeshow für die Sprache. Wie toll sie doch ist, sieh dir mal das an! Und wenn ich auch noch verstehe, was hier steht, dann passt mir das Wortkleid gut. Mir steht dieser schwarze Schutzanzug gut und ich atme tief ein, durch den Filter, und schreite vorwärts. Ach, es ist schön hier, so ruhig, ich habe alles vergessen, was ich noch eben dachte - frei im Gefängnis, wundervoll! Analog zu den Analogien passen die Antilogien. Ich kann es kaum noch erwarten, bis die Sonnen aufgehen und Blut fließen wird. Genug des Denkens, widmen wir uns wieder der Beobachtung. Weit entfernt erkenne ich die Petroleumlampe eines Kohletraktors. Der Umrisse des Bauern sind nur leicht zu erkennen, aus dem Anhänger, der hinterhergezogen wird, schauen die Hufen der Kühe heraus. Er bringt sie zu einem Hochofen, erkennbar durch den Schornstein, der aus dem Acker emporragt. Die Asche verteilt er über dem Acker. Schreiten wir weiter, dann merken wir nicht, wie lang es dauert, bis die Sonnen wieder aufgehen. Ich bin nicht besser als die anderen, aber irgend jemand hat mich besser genannt, darum arbeite ich nicht mit. Durch die inzwischen beschlagenen Sichtfenster meiner Maske sehe ich Suchscheinwerfer von Wachtürmen, die dem Acker Licht und eine Sommerstimmung verleihen.
Ich bekomme die ältesten Bereiche des Ackers zu sehen: Organe über Organe, Blut, Gedärme über Gedärme. Dazwischen Stachelfelder, aufgespießte Gebilde. Sie geben nach, wenn man auf sie tritt. Wenn man auf allen Vieren kriechen muss. Wolken von Verfaultem werden wie bei einem Dudelsack ausgeschieden. Ich bin so froh, diese Maske zu haben, wahrlich es geht mir gut. Wesensverwandte Organformen mit Millionen Fliegen. Man hat ja nie für möglich gehalten, sich in so einer Situation zu befinden, fällt mir ein, während mir das Wasser im Munde zusammenläuft. Jetzt steckt man drin, unmittelbar. Es wird immer heißer und die Fliegen nehmen auch der Gasmaske den Atem. Eine Geröllwand tut sich auf, davor sind die grössten Organe und die dichtesten Stachelfelder, hier sind die verfaultesten Organe und Gedärme. Schon fast flüssig, der Schweiß auf meiner Stirn, unter der Maske, und die Organabsonderungen der Umgebung, und das Blut, laufen dort zusammen. Man kann Freibadgeräusche hören. Doch die Nähe der Geräusche kann nicht zugeordnet werden, da sich nirgendwo solch eine Einrichtung befindet. Jetzt wäre es beinahe passiert, ich wäre in einen Spalt abgerutscht, mir wird die Gefährlichkeit der Lage bewusst, denn ich merke, es ist wie im Traum. Ein Umkehren ist aus bestimmten Gründen nicht möglich. Wäre ich abgerutscht, ich wäre unten. Zwischen den ältesten aller Organe. In der Bergwand, neben einem riesigen, halbverfaulten, ovalen Schlauchorgan, durch das man transparent den Berg erkennen kann, befindet sich ein Loch. Wie von Karies. In der Höhle sind noch mehr aufgespießte Gedärme und Fliegen, total verfault, die gesamte Landschaft. In der Höhle ist es etwas kühler, dafür staut sich hier alles. Hier sind die ältesten Organe. Wer soll das alles essen? Ich gehe weiter und lande wieder auf dem Acker. Hier spielen ein paar Kinder mit einem halben Pferd, als ob nichts gewesen wäre. Ich traue mich nicht, an ihnen vorbeizugehen, denn sie haben Eisenstangen in der Hand. Aber ich bin ja Optimist, also schreite ich voran.

JH´s Tekknorg

© 2003 by Hemmer, Jan